Jeremias auf einem Holzspielgerät in Vienenburg im Landkreis Goslar. Yvonne Salzmann/Mansfeld-Löbbecke-Stiftung

Das eigene Leben gestalten
– die Mansfeld-Löbbecke-Stiftung betreut traumatisierte Kinder

Müssen Betreuer der Mansfeld-Löbbecke-Stiftung gute Fußballer sein? Es schadet zumindest nicht. Bei gutem Wetter dribbeln Erwachsene und Kinder im Garten des Wohnangebots in Vienenburg schon mal spontan wild durcheinander. Dabei gelten eher rudimentäre Bolzplatz-Regeln – und es wird bei jedem Torschuss viel gelacht. Doch wofür steht die Mansfeld-Löbbecke-Stiftung eigentlich?

Mit Sicherheit Zuhause

„Wir bieten den Kindern hier Sicherheit und ein Zuhause“, sagt Daniel Kiene, verantwortlicher Bereichsleiter für die Wohnangebote in Vienenburg. Denn die Kinder der Wohngruppe haben meist schon zahlreiche Brüche durchlebt und kommen teils mit Bindungsstörungen und schwer traumatisiert nach Vienenburg. Viele haben Missbrauch oder Vernachlässigung erfahren und sind bei Pflegefamilien oder in Heimen untergekommen. Doch häufig benötigen die jungen Menschen ein intensiveres Betreuungssetting, das sie bei der Mansfeld-Löbbecke-Stiftung finden. Sie ist bundesweit und im deutschsprachigen Ausland anerkannt als „spezialisierte Jugendhilfeeinrichtung für Menschen mit schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankungen“ – belegt durch das QM-Zertifikat der DQS (Deutsche Gesellschaft zur Zertifizierung von Managementsystemen).

Von kleinen und größeren Herausforderungen

Wohngruppen wie die in Vienenburg betreibt die Stiftung an insgesamt 25 Orten vom Harz über die Region Braunschweig bis in die Lüneburger Heide. Rund 200 Kinder mit einer psychischen Erkrankung wohnen betreut in diesen Häusern. Davon kommen 80 Prozent von außerhalb Niedersachsens – stets vom jeweiligen Jugendamt als Kostenträger dorthin entsandt. In der Wohngruppe in Vienenburg leben derzeit sechs Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren, die rund um die Uhr von pädagogischem Fachpersonal betreut werden. „Wir setzen hier auf eine engmaschige Begleitung der Kinder“, sagt Bereichsleiter Kiene. Die Betreuer gehen mit den Kindern die vielen kleinen Dinge und größeren Herausforderungen des Alltags an. Tauchen Probleme auf, ist eine pädagogische Fachkraft ganz nah dran und kann helfen.

Gemeinsam schöne Tage verbringen

„Es ist schön, über Jahre hinweg die Entwicklung des Kindes zu beobachten“, sagt der Betreuer Benjamin Lippelt. Seine Einzelbezugs-Kinder versucht er am liebsten, für Sportliches zu begeistern. Regelmäßig stehen auch Einzelbetreuungen an. „Dann machen wir uns gemeinsam einen schönen Tag“, sagt der gelernte Heilerziehungspfleger. Kino, Fahrradfahren – alles ist möglich. „Ich gehe dabei immer auf die Wünsche der Kinder ein“, erzählt Lippelt, der wie die anderen Betreuer im Haus stets auch für alle anderen jungen Bewohner da ist. Zusätzlich sind alle Kinder an externe Therapeuten und Ärzte angebunden. Für die Kinder gibt es am Haus des Wohnangebots einen großen Garten mit Fußballtoren, Klettergerüst, und „im Sommer bauen wir manchmal einen Pool auf“, wie Bereichsleiter Kiene erzählt. Im Wohnzimmer essen, spielen, fernsehen alle gemeinsam. Im Keller gibt es einen Toberaum und ein zweites kleines Fernsehzimmer – falls die Programm-Vorlieben mal zu sehr auseinanderdriften.

Das eigene Zimmer kann jeder so gestalten, wie er möchte. Bei Benjamin hängen zum Beispiel Poster an der Wand. Eins ist ein Erinnerungsstück an einen gemeinsamen Ausflug zum ADAC-GT-Masters-Rennen am Hockenheimring. Ein anderes zeigt ein Flugzeug des Typs „Transall“ des Lufttransportgeschwaders 61 – ebenfalls eine Erinnerung an einen Ausflug, verknüpft mit einer besonderen Geschichte: „Wir haben den Transporter mit dem Flugzeug gesehen, als er hier durch Vienenburg Richtung Luftfahrtmuseum Wernigerode gefahren ist“, erzählt Benjamin.

Die Wünsche der Kinder stehen im Mittelpunkt 

„Bei der Freizeitgestaltung bringen die Mitarbeiter ihre jeweiligen Interessen mit ein, um individuell und authentisch auf die Wünsche des Kindes einzugehen“, erzählt Benjamin Lippelt. Er räumt ein, dass Basteln nicht zu seinen Stärken gehört – was bei einigen Kolleginnen aber durchaus der Fall sei. Andere fahren dagegen lieber spontan im Winter mit den Kindern zum Rodeln in den Harz. Wichtig sei stets, das Kind und seine Wünsche in den Mittelpunkt zu stellen. Besuche des Vienenburger Freibads fördern soziale Kontakte ebenso wie die Mitgliedschaft der Kinder in ortsansässigen Sportvereinen. Die Integration in den Sozialraum ist zwar bisweilen eine Herausforderung, aber bewusst gelebte Normalität in der Mansfeld-Löbbecke-Stiftung.

„Wir legen großen Wert auf Partizipation“, erklärt Daniel Kiene. Bei den oftmals bewegten Vorgeschichten sei es umso wichtiger, die Kinder „von Anfang an spüren zu lassen, dass sie ihr Leben selbst gestalten können.“ Daher sprechen die jungen Hausbewohner bei fast allen Angelegenheiten mit – insbesondere bei der individuellen Hilfeplanung. Regelmäßig setzen sich Vertreter des zuständigen Jugendamts mit Bereichs- und Gruppenleitung und natürlich dem jeweiligen Kind zusammen, um im Hilfeplangespräch die Entwicklung zu reflektieren und den weiteren Hilfeverlauf abzustimmen.

Aktives Mitgestalten und individuelle Förderung in der Stiftungsschule

Auch Eltern und Lehrkräfte werden bei Bedarf hinzugezogen. Konkrete Zielvereinbarungen, die gemeinsam mit dem Kind beschlossen werden, definieren die Förderziele und fließen in die tägliche Betreuung ein. Auch in Kinderteams vor Ort oder übergreifenden Informationsveranstaltungen erhalten die jungen Menschen die Möglichkeit, ihre Wünsche und Bedürfnisse einzubringen und Einfluss auf ihr unmittelbares Lebensumfeld, Abläufe und Strukturen zu nehmen. So wirken sie aktiv mit, wenn es um Freizeitaktivitäten oder die Gestaltung der Wohnräume geht. Aber auch bei Veränderungen in der gesamten Stiftung, wie zum Beispiel beim Bau einer neuen Schule, ist ihre Meinung gefragt.

Die Mansfeld-Löbbecke-Stiftung betreibt eigene Schulen mit dem Förderschwerpunkt „Sozial-emotionale Entwicklung“. Hier werden nicht nur Kinder und Jugendliche aus dem Betreuungsnetzwerk der Stiftung, sondern auch externe Schülerinnen und Schüler beschult. Zahlreiche Anfragen zeigen den gesamtgesellschaftlichen Bedarf an individueller schulischer Förderung in Kleinstgruppen. Eine der Stiftungsschulen wird derzeit am Standort Wolfenbüttel zusammen mit dem Hauptverwaltungssitz der Stiftung und einem neuen Wohnangebot gebaut. „Zuvor haben wir die Kinder aus allen Wohnangeboten eingeladen und nach ihren Ideen gefragt – zum Beispiel, welche Spielgeräte für die Außenanlagen sie sich wünschen“, berichtet Till Ruhe, Vorstandsassistent der Stiftung. Eine Regelschule zu besuchen, sei zwar für die Klienten das mittelfristige Ziel. Doch die meisten Kinder benötigen noch Förderung in der Entwicklung.

 

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Elternarbeit und Bezugspersonen

Ein wesentlicher Schwerpunkt der pädagogischen Tätigkeit ist die sogenannte Elternarbeit. Hierzu gibt es konkrete Absprachen mit dem Jugendamt, in der Form und Umfang der Elternkontakte unter Berücksichtigung der Familiengeschichte abgestimmt werden. So fahren manche Kinder die ganzen Schulferien zu ihren Eltern. Bei anderen beschränkt sich der Kontakt auf Telefonate oder Kurzbesuche, die durch Betreuer des Wohnangebots begleitet werden.

Lebensmittelpunkt ist für die sechs Kinder aber die Wohngruppe in Vienenburg. Viele von ihnen erleben erstmals, was es bedeutet, über einen längeren Zeitraum in einem Haus zu wohnen – mit stabilen Bezugspersonen. Deswegen sieht es dort manchmal so aus, als ob die Mitglieder einer großen Familie zusammen im Garten Fußball spielen.