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Stadionfunk
Eintracht-Braunschweig-Kolumne: Sechs-Punkte-Spiel

Am Montag war der VfB Stuttgart zu Gast im Eintracht-Stadion. Ein Spiel, zwei Perspektiven. Unsere Regionäre Kay Rohn und Malte Schumacher berichten.

Malte Schumacher:

Irgendwer hatte mir im Laufe der Woche den „Sechs-Punkte-Spiel“-Floh ins Ohr gesetzt. Ja, klar, wenn wir Stuttgart schlagen, dann überholen wir West-Peine und rücken bis auf drei Punkte an den VfB ran. Ja, ja. Gut, der Sieg in Sandhausen hat die Durststrecke zunächst mal beendet – fünf Spiele ohne Sieg haben die üblichen Diskussionen in Gang gesetzt. Am besten thematisiert hatte dieses Fan-Reflex-Verhalten York Schlüter in einem Text mit dem Titel „Lieberknecht: Lovers vs. Haters“ auf regionalsport.de. Kernsatz darin aus meiner Sicht: „Nicht jeder, der dreimal die Pille hochhalten kann, sollte sich anmaßen, einen Fußballlehrer zu belehren, der seit 25 Jahren im Profigeschäft agiert und dabei durchaus erfolgreich war.“ Damit ist alles gesagt.

Also denke ich am Montag schon bei der Arbeit lieber darüber nach, ob es stimmt, dass wir ja gegen den Tabellenführer immer eher gut aussehen. Auch so ’ne Plattitüde aus der Abteilung „vermeintliches Fachwissen“. Fakt ist sicherlich zweierlei: Wir spielen in dieser Saison zu oft unentschieden und wir haben gleichzeitig von allen Mannschaften die wenigsten Niederlagen. Quintessenz: Er soll nur kommen, der Tabellenführer.

Das Wetter ist fies, es ist kühl und leichter Nieselregen geht runter, als ich zur Straßenbahn am Kennedy-Platz spaziere. In meinem Wagen fahren drei junge VfB-Fans mit, sie kommen mit zwei älteren Blau-Gelben ins Gespräch. Bereits seit Sonntag sind sie hier und haben sich die Stadt auch schon ein wenig angeschaut. Was man denn hier noch so sehen sollte, außer dem Rathaus, fragen sie – da wären sie ja als Erstes gewesen. „Rathaus?“, fragen die Braunschweiger zurück, „wieso habt Ihr Euch denn ins Rathaus verlaufen? Und ist das nicht geschlossen sonntags?“ Ja, nee – das Ding mit der Kutsche obendrauf ist doch das Rathaus? Okay, die waren im Schloss und meinen mit „Kutsche“ die Quadriga, klären die Blau-Gelben sie auf. Die Stuttgarter berichten zudem, dass über 3.000 von ihnen heute erwartet werden. Und das an einem Montagabend – coole Nummer!

Flutlicht

Die Sonder-Straßenbahn hält nicht am Gesundheitsamt, wo ich sonst immer aussteige – also bummele ich an Fanshop und „Wahrer Liebe“ vorbei und sauge die Atmosphäre auf. Flutlichtspiele sind die Krönung, da geht nichts drüber. Flutlicht rockt und setzt ganz anderes Adrenalin frei als ein Spiel am Samstag um 13.00 Uhr. Auch hier stehen Stuttgarter und Braunschweiger zusammen und trinken Bier – sehr angenehm zu sehen. Da werden bei mir immer ganz alte Bundesliga-Erinnerungen geweckt.

Vor der Hauptribüne treffe ich auf einen einsamen Bierverkäufer, den ich unbedingt fotografieren möchte. Der kräftige Ordner, der bei ihm steht, will partout nicht mit auf’s Bild – dafür überzeugt er mich aber davon, dem mobilen Mundschenk als Gegenleistung für mein Foto ein Bier abzukaufen. Wer könnte diesem eindrucksvollen Ordner (Schwergewichtsklasse …!) widersprechen? Ich nicht, Prost.

Unten vor Block 6 treffe ich auf Renne und seine Familie, mit Tipps halten sich aber alle zurück. Oder treffender beschrieben: Alle sind sich einig, dass heute alles geht: Wir gewinnen, wir verlieren – oder es gibt ein Unentschieden. Die Mannschaft war halt instabil und selten siegreich zuletzt, das schlägt sich in der Erwartungshaltung der Fans nieder.

Oben im Block dasselbe Meinungsbild – keiner lässt was Konkretes raus. Luffe Wolter allerdings, Torwart in der Meister-Saison 1966/67, erinnert im Interview mit dem Stadionsprecher daran, dass sie ja in jener Saison die Bayern mit 5:2 abgeschossen haben. Danke, das wollen wir als verheißungsvolle Ermunterung mal durchgehen lassen. Die Aufstellung mit Zuck, Cello für Decarli und Manni für Kumbela ist okay. Und natürlich spielt Bole von Anfang an – wie hatte Markus im Fanclub-WhatsApp-Kanal nach Boles Tor in Sandhausen vermutet: „Bole hat jetzt wieder auf Jahre Welpenschutz.“

 

Alte Freunde, neue Gesichter

Spitzenspiele spülen immer wieder beide Sorten Menschen in den Block: Alte Freunde, die sich mal wieder aufraffen und um Tickets kümmern, sowie Honks, die nur ab und zu mal kommen und daraus für sich und andere ein Erlebnis machen wollen. Zu den Ersteren gehören Arvid und Guido – lange nicht gesehen, es gibt genug zu erzählen. Mit Mex, neben mir, kann ich nicht quatschen, er ist in das „Südkurvenblatt“ von Cattiva vertieft.

Cattiva sind es auch, die eine eindrucksvolle Choreografie über die gesamte Südkurve vorbereitet haben: Überall sind recht große blau-gelbe Schwenkfahnen verteilt und vorne am Zaun prangt der Schriftzug „FANPOWER  HAMBURGER  STRASSE“. Yeah, das passt. Sofort nach dem Anstoß wird dann klar, dass heute hinter uns die zweite Sorte Mensch angedockt hat: Drei Studenten (augenscheinlich), einer davon meint den Spielern lautstark von hier oben so hilfreiche Anweisungen geben zu müssen wie „Fuß vor!“ Unflätig werden sie dann, als ChicKen nach drei Minuten ein Rückpass total misslingt und der Stuttgarter Mané mal eben rasch das 0:1 macht. Direkt vor unseren Augen. Du hast dich noch gar nicht richtig eingelassen auf das Spiel und liegst schon hinten – Mist!

Malte Schumacher

Heute aber ist Granatenstimmung, die Südkurve lässt sich von diesem dummen Gegentor nicht entmutigen – im Gegenteil, es wird laut und wild gesungen und angefeuert. Flutlicht-Adrenalin, sage ich doch. Gleichwohl, die Stuttgarter spielen stark und wir kommen nur schwer zu gefährlichen Aktionen. Das wäre jetzt fatal: Wir Fans powern wegen des Adrenalins und die Jungs unten verkrampfen wegen des blöden Gegentors.

In dieser Phase kreischt der Student hinter uns mehrfach sein hirnrissiges „Fuß vor!“ und ich murmele mir in den Bart, dass er seine blöde Schnauze halten soll. Micha und Jens vor mir drehen sich um und lachen – da habe ich wohl doch nicht bloß gemurmelt. Auch Mex reagiert und raunt mir zu: „Meine Frau vertreibt die schon, keine Sorge …!“ Könnte klappen – Angela neigt dazu, gegnerische Spieler, Fans und die Schiris sowieso lautstark zu beschimpfen. Na los, Angie, gib Gas, verjag’ die hohlen Studis!

 

Erst Bole, dann ChicKen

Nach 20 Minuten finden die Jungs ins Spiel und sie werden auch gefährlich. Und die Stimmung brennt weiter vor sich hin. Ein wenig aus dem Nichts gibt’s auf einmal Elfmeter für uns – aus dem Nichts, weil die Szene im Strafraum vor der Nordkurve spielt und keiner von uns so wirklich sagen kann, was vorgefallen ist. Egal: Elfmeter! Klasse, keine Ahnung, wann wir den letzten Elfer hatten.

Wer schießt? Domi ist auf der Bank – Bole nimmt sich den Ball. Hau’ ihn rein! Guter Schuss, so weit ich das sehen kann, aber der Stuttgarter Torwart ist im richtigen Eck und wehrt den Ball ab. Scheiße! Mitch Langerak, Australier, früher mal zweiter Mann bei Borussia Dortmund. Ich wusste gar nicht, dass der sowas kann. „Nein!“, regt Arvid sich auf, „nein, kann nicht passieren, darf nicht passieren! Warst du schon mal im Zirkus, kennst du Messerwerfen? Das geht auch nicht daneben, das darf gar nicht danebengehen, da sitzt jeder Wurf – denn das kann man trainieren, genau wie Elfmeter schießen!“ Wo er recht hat, hat er recht …

Die Eintracht bleibt dran, weder blödes Gegentor noch verballerter Elfmeter können den Jungs also etwas anhaben. Und auf einmal pfeift und zeigt der Schiri wieder Elfmeter für uns. Ich werde blass! Ich habe wieder keine Peilung, warum – und obendrein schickt er einen Stuttgarter mit Gelb/Rot zum Duschen. Hammergeil! Trotzdem nehme ich mir vor, alsbald mal zum Optiker zu gehen, ich möchte doch sehen können, was da vor der Nordkurve immer so passiert.

Diesmal will ChicKen schießen – ausgerechnet ChicKen, der das Gegentor auf dem Gewissen hat. Cooler Vogel: Er brät das Ding halbhoch ins rechte Eck – wir hüpfen, springen, schreien. Ausgleich, yes! Und dazu die Aussicht, den Tabellenführer eine Halbzeit lang mit einem Mann mehr beackern zu können …

 

Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste

In der Halbzeit wird frohlockt – West-Peine überholen ist tatsächlich zum Greifen nah, hurra! Stuttgart kommt mit zwei Neuen aus der Kabine – klar, taktische Umstellungen, die müssen sich etwas defensiver aufstellen. Wobei offensiv auch in Halbzeit 1 eher wenig zu sehen war vom Tabellenführer. Terodde zum Beispiel habe ich nicht einmal gefährlich wahrgenommen. Offen gestanden bemerkt man nicht so richtig, dass wir einer mehr sind. Stuttgart steht gut und verteidigt gut.

Wir agieren wahrnehmbar zurückhaltend – wie hat Otto Rehagel das mal genannt: kontrollierte Offensive. Womit wir mal wieder beim Mysterium Halbzeitansprache des Trainers wären. Ich werde das Gefühl nicht los, dass Torsten ihnen zur Vorsicht geraten hat, um dieses Ding bei zu viel unkontrolliertem Sturm und Drang nicht noch durch einen Stuttgarter Konter zu verlieren. Sie passen die Kugel also lieber einmal mehr quer vor den Stuttgarter Ketten – oder soll man Riegeln sagen? – und haben auch einige Chancen. Aber dieser Langerak, der kann echt was …

Die Stuttgarter fahren zudem auch noch ein, zwei Angriffe und der Studi hinter uns bellt nochmal sein „Fuß vor!“ Angela, mach’, dass der nicht mehr wiederkommt – und tatsächlich, sie gibt sich Mühe.

Torsten wagt dann doch noch was – nämlich die drei offensiven Einwechslungen Domi, Khelifi und Biada. Aber weder an den Stuttgarter Riegeln noch am sehr starken Langerak kommen die Jungs heute vorbei. Schade, Schlusspfiff und unentschieden. Einen Punkt gewonnen, zwei Punkte verloren – wie fällt die Bewertung aus? Wir im Fanclub neigen eher dazu, der Mannschaft ein Kompliment zu machen, für die endlich mal wieder starke Leistung. Es sah teilweise sehr ordentlich nach Fußball aus und von dem ach so gefährlichen Herrn Terodde war auch in Halbzeit 2 nichts zu sehen. Also bleibt’s oben beim Vierkampf und wir sind als Vierter der Jäger der anderen drei.

Nächsten Montagabend geht’s nach Düsseldorf, danach empfangen wir an einem Freitagabend Heidenheim – das Flutlicht-Adrenalin also bleibt uns treu und wird uns sechs Punkte bescheren, das spüre ich auf dem Heimweg durch die hereinbrechende Nacht ganz deutlich.

 Kay Rohn:

 

Montagabend bei Flutlicht

Der Platz zeigte sich nach dem Spiel in bestem Braun. Von Rasen war kaum noch etwas zu sehen. Endlich war ein Ruck durch die Mannschaft gegangen. Jeder Meter war umkämpft worden. Die Stuttgarter Spieler wurden früh in ihrer Hälfte attackiert. Die Braunschweiger Abwehrreihe stand kurz hinter der Mittellinie und baute so gleich Druck auf den Gegner auf. Das alles kann natürlich auch schiefgehen.

3. Minute, die notorischen Zuspätkommer auf der Tribüne sitzen noch nicht richtig: 0:1! Was war passiert? Marcel Correia, von Beginn an wieder in der Abwehrreihe, macht einen Querpass zu Ken Reichel. Boden, Geschwindigkeit und Sprungverhalten des Balles ergeben zusammen eine schwer kontrollierbare Gemengelage. Ken Reichel spürt seinen Gegenspieler im Nacken will den Ball in Richtung Jasmin Fejzic gleich weiterspielen, kann dem Ball aber nicht genügend Schwung geben und der Stuttgarter Carlos Mané nimmt das Geschenk an und verwandelt zum 1:0. Viel wichtiger als dies Missgeschick von Ken Reichel ist die Art und Weise, wie unsere Mannschaft diesen Treffen wegsteckt und weitermacht.

 

Kult oder Religion

Am Freitag vor dem Spiel bin ich mit einer Konfirmandengruppe der St. Lukasgemeinde im Stadion. Die Konfirmanden hatten sich mit dem Thema Fußball versus Religion beschäftigt. Stadien, die Kathedralen der Neuzeit. Kult oder Religion, Liturgie und ritualisierter Ablauf eines Fußballspiels, soziale Dienste bei der Kirche und Dienste für die Gemeinschaft z. B. im Fanprojekt.

Die 14jährigen sind erstaunt über das, was neben dem Fußball an diesem Ort alles getan wird. Miriam Herzberg von Eintracht Braunschweig, stellte die Aktivitäten der Stiftung dar. Gibt es so etwas wie die zehn Gebote in unserer Religion? Miriam Herzberg hat für jeden ein Leitbild für Eintracht Braunschweig, die Gebote, die als Orientierung für Verhalten und Handlung dienen sollen. Vieles haben die Konfirmanden nicht gewusst, nach drei Stunden blaugelber Druckbetankung gehen sie wieder in ihre Gemeinde zurück.

 

12:1 für die Braunschweiger Eintracht

Eigentlich unüblich, so ein Eckenverhältnis für unsere Mannschaft. Aber es macht deutlich mit welcher Vehemenz und mit welcher Feldüberlegenheit die Blaugelben agiert haben. Zwei Elfmeter, einer wird verwandelt zum 1:1. Eine gelb-rote Karte für die Stuttgarter, eine Halbzeit in Überzahl. Keiner macht unserer Mannschaft hinterher einen Vorwurf. Alle haben das beste Heimspiel seit langer Zeit gesehen. Ich habe den direkten Vergleich zum Spiel in Stuttgart. Diesmal stimmte die Einstellung in der Mannschaft und der Punkt war ein Gewinn.

 

Danke!

Im Kicker TV Talk äußert sich das Trainerurgestein Peter Neururer mit großer Sympathie für den Braunschweiger Weg: „Ist es für mich persönlich die einzige Mannschaft, die EINZIGE Mannschaft, die im Stande ist, wieder planvoll die Rückkehr in die Bundesliga durchführen zu können. Und ich drücke die Daumen für die Braunschweiger diesbezüglich…“

Zudem ist mir aufgefallen: Suleiman Abdullahi ist schnell, hat den Blick für den Mitspieler, ist technisch sehr gut und ist auf dem Wege eine große Verstärkung zu werden.