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Stadionfunk Eintracht Braunschweig:
Gefühlte Statistik – gegen den Tabellenletzten geht nie was

„Wir haaam imma noch 10 Punkte mehr als die!“ So verarbeitet der Braunschweiger Fan die Niederlage, dessen Bemerkung ich im Vorbeigehen höre. Es rumort in mir. Es ist nicht die Sorge vor einem Abstieg. Vielmehr ist es die Einstellung von einigen Spielern auf dem Platz und es ist ein fehlendes Mannschaftsgefüge, das mir Sorge und Nachdenken bereiten. Ab der sechzigsten Minute ist bedingungslose Kampfbereitschaft von Eintracht zu spüren, aber vorher sieht unser Spiel aus, als wenn es um nichts mehr ginge. Wo sind das Adrenalin und der Kick in der Mannschaft. Wer rüttelt die Spieler auf dem Feld wach? Ich habe da keinen gesehen. Die rechte Seite war wieder einmal die Achillesferse der Eintracht. Die Reaktion kam in der Pause. Natürlich gewinnen alle und verlieren alle gemeinsam, aber was nicht sein muss, sollte abgestellt werden. Diese Niederlage war vermeidbar.

Kay-Uwe Rohn

„Manni“

Suleiman Abdullahi hat eine ganz besondere Entwicklung durchlaufen. Er ist gefährlichster Angreifer geworden. Er kämpft; ist Anspielpunkt Nummer eins und durchsetzungsfähig. Natürlich kann er den Blick für den besser stehenden Mitspieler noch schulen, aber er hat in meinen Augen erkennbar große Fortschritte gemacht. Berücksichtigt man sein noch junges Alter, dann ist er der Spieler mit dem größten Potenzial im Kader.

 

Kreativität

Onel Hernandez konnte der Verein leider nicht halten, Salim Khelifi nicht im Kader. Patrick Schönfeld konnte seine gute Form aus den letzten Spielen leider nicht bestätigen. Viel ruhte auf den Schultern von Jan Hochscheidt – vielleicht zu viel. Kein überraschendes Rochieren auf den Außenbahnen, kein überraschendes 1-zu-1-Duell. Folgerichtig die Einwechselungen zur Halbzeit. Yildirim und Bulut bildeten in den zweiten fünfundvierzig Minuten die Kreativabteilung und brachten merklich mehr Schwung ins Spiel. Die Mannschaft hat die Qualität – einzig der Schlüssel, wie diese Qualität auf den Platz kommt, der ist noch immer nicht gefunden. Kopf hoch und mit Selbstvertrauen ins nächste Spiel gehen. Kaum einer strahlt das im Moment auf dem Platz aus.

 

Laufleistung und Leistungsdiagnostik

Franz Beckenbauer oder Pelé sind früher tatsächlich nur circa drei bis vier Kilometer pro Spiel gelaufen. Heute liegen die Werte in der Bundesliga und in der 2. Liga bei den Spielern zwischen zehn und dreizehn Kilometern in 90 Minuten. Die Feldspieler haben je Position natürlich unterschiedliche Werte. Die Deutsche Fußball Liga (DFL) hat z. B. herausgefunden, dass die laufstärksten Spieler keineswegs die torstärksten sind.

Die ausdauerndsten Läufer einer Saison gehören fast immer zu den schwächsten Torjägern. Stattdessen handelt es sich bei den Top-Läufern eher um diejenigen, die Vorlagen liefern. Schaut man sich die Werte unserer Mannschaft an, so befinden wir uns – auf die gesamte Saison bezogen – auf dem 16. Platz vor Union Berlin und Erzgebirge Aue. Spieltagbezogen belegen die beiden Spieler Christoph Moritz und Brandon Borrello aus Kaiserslautern bezeichnenderweise Platz 1 und 2 mit je 12,88 Kilometern, Ken Reichel folgt auf Platz 10 mit 12,07 Kilometern. Die Leistungsdiagnostik kann nur ein Baustein bei der Gesamtanalyse eines Teams sein. Aber es fällt auf, dass es einige Parallelen zwischen dem Ranking der Laufleistung und der Tabelle gibt.

 

Angrillen am Stadion

Am letzten Dienstag gab es den Aufruf zum „Angrillen am Stadion“. Von 18 bis 21 Uhr konnten Eintracht-Fans, Fanclubs, BTSV-Mitglieder, Mitarbeiter und Anwohner gemeinsam im Bereich hinter der Südkurve ihre mitgebrachte Verpflegung auf dem eigenen Grill zubereiten und auf die Eintracht anstoßen. Von dieser Art gemeinsamer Eintrachttreffen kann es gerne noch mehr geben. Hinter der Betonkurve des Stadionrunds, mit dem Charme eines eher tristen Pariser Vorstadtplatzes, kamen unterschiedlichste Gruppierungen zusammen; eben alles Einträchtler. Roh hingeschüttete Kanthölzer für die Feuerkörbe, etwas Licht durch vereinzelte Versorgungsbüdchen und Reichel, Hochscheidt und Nkansah, die sichtlich Spaß haben, durch die Reihen zu gehen. Das war ein Stück Eintracht-Seele zum Anfassen.

Mir ist aufgefallen: Halil Altintop kann´s immer noch!

Malte Schumacher:

Kaputt und müde

Ich sitze am Spieltag ziemlich müde in der Küche beim Frühstück. Am Samstag haben wir den ganzen Tag lang für unseren Verein „Löwe für Löwe“ in Wedtlenstedt einen Container mit Hilfsgütern vollgepackt – darunter Fußballschuhe und Bekleidung für Kinder und Jugendliche, circa 50 Nähmaschinen sowie diverse medizinische Geräte. Größte Herausforderung: den uns gespendeten Rettungswagen in den Container „heben“. Als ich dann gestern Abend daheim war, war ich platt – und bin es noch. Mit Blick auf das Spiel gegen Lautern hat dazu natürlich auch die unruhige Woche rund um die Eintracht beigetragen: Beim wichtigen Auswärtssieg in Aue meinte Torsten Lieberknecht der Welt erzählen zu müssen, es sei ein Endspiel für ihn gewesen, die Vereinsführung habe ihm ein Ultimatum gestellt.

 

Unruhige Zeiten

Was dann folgte, war eine Vorstellung aus dem unrühmlichen „typisch Eintracht-Theater“ – Wischi-Waschi-Kommunikation des Vereins, die viele Fans für längst überwunden gehalten hatten. Freitag Abend hatten wir dieses vermeintliche Ultimatum gegen den 10-Jahres-Trainer bei der Jahreshauptversammlung des FanRates intensiv diskutiert und sogar einen Leitantrag dazu verabschiedet. Jeder konnte und musste sich eine eigene Meinung zu diesem Thema bilden, denn von Vereinsseite gabe es nur eine dürre Äußerung des Präsidenten Ebel, und in den Medien war es allein die „unser38“-Kolumne „Drägers Dribbling“, die die wenigen bekannten Fakten wenigstens mal zusammengesammelt hatte. Und dann tauchte am Samstag auch noch ein Facebook-Posting von Torsten auf, in dem er doch wieder den Zusammenhalt aller beschwor.

 

„Und täglich grüßt das Murmeltier …“

Ich muss mich zusammenreißen, noch einen Espresso trinken, und sowohl die müden Knochen als auch den Trainer-Alarm vergessen – es geht gegen den Tabellen-Letzten Kaiserslautern, und der bringt einen neuen Trainer mit … Als ich um 11.35 Uhr in die Straßenbahn ins Stadion steige, wird um mich herum nur darüber geredet, dass wir ja immer schlecht aussahen in der Vergangenheit gegen Tabellenletzte, die obendrein einen ganz frisch installierten Trainer mitbringen. Ich nenne das „gefühlte Statistik“ und nehme mir vor, eines Tages die nunmehr 123-jährige Geschichte der Eintracht darauf zu untersuchen, ob das tatsächlich stimmt. Fakt ist: Vor fast einem Jahr haben wir daheim gegen den damals Tabellenletzten St. Pauli mit 1:2 verloren. Und heute, am Spieltag, ist (in den USA) Groundhog Day, also der Tag, an dem der großartige Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ spielt. In dem immer dasselbe passiert und abläuft – Geschichte sich also permanent und penetrant wiederholt.

 

Schals mit frommen Wünschen

Vor dem Stadion vertickt jemand Eintracht-Schals mit dem Aufdruck „Aufstieg 2017“ – nun ja, die hat der wohl vor der Relegation gegen die Radkappen produziert … Überhaupt Radkappen: Da die beiden Relegationisten von 2017 ja sehr ähnlich durch ihre Nach-Relegations-Zeit stolpern, müssten wir heute, analog zum VfL, wieder unentschieden spielen. Denn dies ist sicherlich ein großes Manko der Gegenwart: zu viele Unentschieden! Die Eintracht-Bilanz von 2017 in den Liga-Spielen (ohne Relegation) sieht so aus: 13 Siege, 15 Unentschieden, 7 Niederlagen – eigentlich ganz okay.

 

Conti-Boys

Vor dem Südkurven-Eingang mache ich Station bei den Conti-Boys, die sich dort immer mit Bierwägelchen, Tisch und Sonnenschirm der Spielvorbereitung widmen. Heute werfen sie gerade den Grill an, um gleich auch noch eine Spieltags-Wurst zu nehmen. Wir sind uns einig: Das Spiel ist wichtig, wird aber schwer – aus den genannten, gefühlt statistischen Gründen … Den Trainer-Alarm halten sie für schwierig – wer sollte Torsten denn nachfolgen? Wer steht denn ähnlich wie Torsten in der Öffentlichkeit für die Werte der Eintracht? Und was halten sie von den heute von der Eintracht getragenen Karnevals-Sondereditions-Trikots? Nicht so wichtig.

Gemischte Gefühle, identische Aufstellung

Auch im Block bei den Fanclub-Jungs und -Mädels sind die Gefühle eher gemischt. Jeder weiß, dass das Ding heute gewonnen werden muss, um dann mit 28 Punkten mal ein wenig durchatmen zu können. Als wir die Aufstellung bekommen, sind wir fast überrascht: es beginnen die gleichen elf Spieler wie in Aue. Torsten neigt sonst ja eher dazu, Umstellungen vorzunehmen, heute aber gibt er den Auswärts-Siegern das Vertrauen. Vorne also Manni, Domi und in der Mitte Hofmann – die Abteilung Attacke steht!

 

Wer nicht hüpft, der ist ein Roter …

Die Gästekurve ist gut gefüllt, und die „Roten Teufel“ zeigen eine recht aufwändige Choreographie. Klar, die müssen ihre Mannschaft mächtig motivieren – Kaiserslautern steht mit nur 12 Punkten und einem großen Abstand zum Nicht-Abstiegsplatz ganz nah am Abgrund. Die Südurve reagiert mit „Wer nicht hüpft, der ist ein Roter“ – heute passt dieser eigentlich auf 95+1 gemünzte Schmähgesang. Die Choreo der Gäste geht einher mit roten Rauchschwaden – das heizt dann auch unsere Stimmung noch weiter an.

 

Dicke Chancen und ein Gegentor

Anpfiff – und Hochscheidt und Domi haben auch tatsächlich gleich zwei Chancen, gerade Domis Schuss nach drei Minuten könnte eigentlich auch sitzen, Mist. Kurz danach gibt Manni hinten den Slapstick-Verteidiger und rutscht beim Klären des Balles weg. Die Folge: Flanke, Kopfball, Gegentor nach sechs Minuten. Kalte Dusche. Ja, gegen Aue haben sie einen solchen Rückstand noch gebogen in einen 3:1-Auswärtssieg – aber ich persönlich brauche gar keine Gegentore, nie. Meine Stimmung sackt in den Keller.

 

Leidensvermögen

Ich werde heute Abend noch eine Ausstellungs-Eröffnung in der St. Andreas-Kirche moderieren – die Künstler Philip Grözinger und Wolfgang Siesing haben die Hagenmarkt-Kemenate der Prüsse-Stiftung mit Arbeiten rund um die Themen Eintracht und Fußball bestückt. Ich weiß in diesem Moment, dass ich in meiner Anmoderation den Besuchern vermitteln werde, was das Leben eines Fußballfans ausmacht: „Fußballfan zu sein, das bedeutet, emotional Anteil zu nehmen an Ereignissen, die man selbst nicht beeinflussen, unter denen man aber sehr wohl leiden kann“ – so treffend beschrieb es in Anlehung an Nick Hornby mal ein Journalist.

Das Drama nimmt seinen Lauf

Hochscheidt hat dann noch eine Chance zum Ausgleich, aber gut sieht das nicht aus, was Eintracht macht. Die Defensive wirkt wackelig, Nkansah spielt hinten rechts reichlich mau. Als Lautern nach 35 Minuten nach einer Ecke unsere Wackel-Abwehr-Schwäche zum 0:2 nutzt, bin ich bedient. Erstmals seit Jahrzehnten denke ich kurz darüber nach, einfach nach Hause zu fahren und einen Mittagsschlaf zu machen. Auch um mich herum herrschen eher Tristesse und Apathie – keiner erzählt ein Späßchen, keiner holt tonnenweise Bier – alle sind gefrustet. Viel geredet wird nicht, Mex und ich lästern über die fiesen Temperaturen und den deutlich spürbaren Ausfall der Fußbodenheizung in Block 6.

 

Wechsel

Zur zweiten Halbzeit kommen Yildirim und Bulut für Schönfeld und Nkansah. Zwei eher offensive Mittelfeldspieler für zwei eher Defensive, okay. Hochscheidt gibt in der Folge etwas, das man früher mal Libero nannte. Block 9 zeigt der Vereinsführung und der Öffentlichkeit ein klares Pro-Lieberknecht-Banner: „Lieber Knecht als Klüngel“ … Die Eintracht rennt nun, die Eintracht drückt, das Publikum singt, schreit und feuert an. Irgendwie alles reichlich spät und irgendwie spiegelverkehrt zur Niederlage in Heidenheim: Da war Halbzeit 1 okay und Halbzeit 2 scheiße, heute ist es umgekehrt. Das kann alles keiner mehr verstehen, da wird keine Logik deutlich. Nach einer Stunde kommt bei Lautern tatsächlich der „verlorene Sohn“ Halil Altintop – den habe ich hier am 18. Mai 2002 mal für Wattenscheid spielen sehen.

Manni

In der 72. Minute macht Manni dann endlich den Anschlusstreffer, und Domi holt den Ball – assistiert vom Schiri – sofort aus dem Netz und läuft damit zum Mittelkreis. Noch 20 Minuten Zeit für die Aufholjagd, für ein oder gar zwei Tore. Nun schnüren sie sie ein und drücken – Manni hat mehrere gute Chancen, Chicken ballert an die Latte. Teigl schweißt auch zwei gute Dinger drauf – irgendetwas Rotes ist aber immer dazwischen. Nun ist wieder Leben in den Menschen hier im Block, und wir sind uns einig: In der letzten Saison hätte der von Chicken gesessen. Fünf Minuten Overtime, sie geben weiter Gas.

 

Ende, Tristesse, Heldentage

Schlusspfiff, Ende. 1:2 gegen den Tabellenletzten – mal wieder. „Wenn’s Dir richtig schlecht geht, und Du dringend Punkte brauchst – fahr‘ zu Eintracht, die geben gerne …“ – so oder ähnlich erzählt man sich das wohl im deutschen Profi-Fußball. Ich habe die Schnauze voll und steige apathisch in die Straßenbahn in Richtung Heimat. Was mich begleitet, ist die Hoffnung – die Hoffnung, dass die gleich anstehende Ausstellungs-Eröffnung und meine Moderation mich auf andere Gedanken bringen, meinen Kopf wieder frei machen werden. Katharsis durch Ablenkung oder so – auch wenn das Kunst-Projekt „Heldentage“ der Prüsse-Stiftung sich ja auch um Eintracht und Fußball dreht. Ich gebe es zu: Ich komme aus dem Kreislauf nicht raus.