Neue Ideen für Soziales: Das Innovationslabor des AWO-Bezirksverbands Braunschweig ist in Niedersachsen einmalig. „Wir zeigen hier, dass es Innovationen nicht nur bei VW gibt, sondern dass man auch das gesellschaftliche Miteinander weiterentwickeln kann“, sagt Julia Schur. Sie war zum Zeitpunkt dieses Berichts eine von zwei Innovationsmanagerinnen des Labors, das von 2016 bis 2018 mit der Förderung des Europäischen Sozialfonds anlief und heute eine eigene Stabsstelle der AWO Braunschweig ist.
Soziale Innovationen für die Region
Ideen aus dem Schwimmbad
Labor ist dabei nicht nur ein Wort – Hier sollen neue, bahnbrechende Ideen für den sozialen Sektor entstehen. „Wir entwickeln hier neue Ansätze, wie wir mit den Herausforderungen im Wohlfahrtswesen – zum Beispiel der Digitalisierung oder dem Fachkräftemangel – umgehen wollen“, erklärt Innovationsmanagerin Schur. Besonders im Blick haben die Innovatoren die Bereiche Kita und Altenhilfe.
Das Labor befindet sich in einem eigenen Gebäude auf dem AWO-Kampus in Braunschweig-Querum. In den 1970er Jahren diente es als Therapieschwimmbad des Wohlfahrtsverbands. Heute heißt das Haus „ThinkPool“ und verweist so auf seine Vergangenheit. Auch architektonisch lässt sich diese noch eindeutig ablesen, zum Beispiel an den noch erhaltenen Original-Fliesen des ehemaligen Schwimmbeckens.
Das Ziel: Marktreife soziale Dienstleistungen
Das Herzstück des Labors sei dabei ein Ideenwettbewerb, sagt Schur. Mehrere Teams haben sich mit ihren Projekt-Skizzen für die Teilnahme beworben, sechs wurden schließlich ausgewählt – vier Teams aus AWO-Mitarbeitern und zwei der Diakonie. Diese aus der Praxis stammenden Kollegen entwickeln jetzt über zehn Monate ihre Ansätze weiter – mit dem Ziel, sie zur „Marktreife“ zu führen, also daraus echte Angebote und soziale Dienstleistungen entstehen zu lassen.
Telemedizin in der Seniorenpflege
Eins der Projekte befasst sich beispielsweise mit der Möglichkeit, Telemedizin in Seniorenpflege-Einrichtungen einzusetzen. „Die ärztliche Versorgung im ländlichen Raum wird immer schwieriger. Wir haben uns gefragt, wie es für unsere Klienten möglich ist, den Kontakt zu ihrem Hausarzt zu halten“, berichtet Tobias Steinmann, Einrichtungsleiter eines Senioren-Pflegeheims der AWO in Königslutter.
Der Arzt solle dabei entlastet werden, die Lösung außerdem praktikabel und günstig sein. Über eine Kooperation mit der Universität Osnabrück wurde dem Projekt-Team um Steinmann schnell klar: „Die Technik dafür ist bereits vorhanden und erschwinglich.“ Ein Prototyp enthält diverse Diagnosegeräte – etwa, um Blutdruck oder Zuckerwerte zu messen. „Die Ergebnisse kann das Pflegepersonal mit einem Knopfdruck direkt auf das Handy des Hausarztes schicken“, sagt Steinmann begeistert und betont: „Dieser Weg soll die Hausbesuche des Arztes nicht ersetzen, sondern ergänzen.“
Flexible Kinderbetreuung – auch in der Nacht
Ein anderes Projekt-Team beschäftigt sich mit der Frage, wie man eine Kinderbetreuung aufstellen kann, um Eltern, die alleinerziehend oder im Schichtdienst tätig sind, das Leben und Arbeiten zu erleichtern. „Wir sind selbst Mütter und in der stationären Jugendhilfe im Schichtdienst tätig. So kamen wir auf die Idee für die Flexbetreuung“, sagt AWO-Mitarbeiterin Nina Schultz. Denn oftmals reichen die herkömmlichen Betreuungsmodelle nicht aus. Die Flexbetreuung wäre dagegen rund um die Uhr besetzt. „Wir wollen aber die Betreuungszeiten nicht ausweiten, sondern den Eltern flexible Zeiträume anbieten“, erklärt Team-Mitglied Sabrina Podyma.
Derzeit loten die Kolleginnen den Bedarf an einer solchen Einrichtung aus. „Wir wollen Eltern dabei auch ermöglichen, ihre Ideen und Rituale mit einzubringen – vor allem, wenn die Betreuung über Nacht stattfinden muss. Schließlich fällt es Eltern nicht leicht, ihre Kinder abends abzugeben“, erklärt Schultz. So solle es beispielsweise möglich sein, dass die Mütter und Väter beim Ins-Bett-Bringen dabei sind, oder dass sie am gemeinsamen Frühstück teilnehmen.
Ein weiteres Team entwickelt derzeit die Idee zu einem Kooperativen Wohnprojekt, in dem Plätze der stationären Jugendhilfe, der Altenpflege und „normale“ Wohneinheiten unter einem Dach untergebracht sind. Ein viertes Projekt will mit seiner Idee die Schulpraktika in sozialen Einrichtungen attraktiver machen. Die zwei teilnehmenden Diakonie-Teams entwickeln zum einen das Vorhaben mit dem Titel „Familie üben“ – dabei geht es um Hilfe für Jugendliche in problematischen Familiensituationen – und zum zweiten die „Dorfschwester 2.0“. Ähnlich wie in der Telemedizin soll dabei die medizinische Versorgung im ländlichen Raum verbessert werden.
„Ideen mit echtem sozialen Mehrwert“
Die Teams entwickeln ihre Ideen regelmäßig in Workshops weiter, helfen sich gegenseitig, werden gecoacht und stellen ihre Projekte in bestimmten Abständen vor. Die Feedbacks werden in die Projekte eingebaut. Dabei wird mit dem Ansatz des Design Thinking gearbeitet, der von den Bedürfnissen und Motivationen der Nutzer ausgeht. Der Prozess wird begleitet vom Team des AWO-Innovationslabors und Trainern von „Social Impact“. Die Agentur für soziale Innovationen mit Sitz in Berlin hat jahrelange Erfahrung in der Beratung von sozialen Start-Ups und betreibt mehrere Innovationslabore in ganz Deutschland.
Im Januar 2020 sollen die bis dahin ausgereiften und weit gediehenen Ideen dem AWO-Vorstand in einer Zwischenbilanz vorgestellt werden. Im Mai 2020 fallen die Entscheidungen, welche Ideen an den Markt gehen sollen. „Wir freuen uns über die Innovationskraft, die wir hier entfachen und sind überzeugt, dass die Ideen, die hier entstehen, einen echten sozialen Mehrwert haben werden“, sagt Innovationsmanagerin Julia Schur.