Wer Geschichte auf besondere Weise erleben möchte, muss ins Detail gehen. Die vielen kleinen Museen, die in unserer Region zu finden sind, bieten dazu reichlich Gelegenheit. Zu ihnen gehört das Seilereimuseum in Schöningen. Besucher erhalten dort tiefe Einblicke in ein ganz spezielles Handwerk und werden überdies entführt in eine weit zurückliegende (Arbeits-)Welt.
Auf den Spuren eines altehrwürdigen Handwerks
Das Seilereimuseum in Schöningen
Das Handwerk der Seilerei hat in Schöningen eine beeindruckend lange Tradition, belegt durch die Gründung einer Seilergilde im Jahre 1729. Bis 1995 existierte in Schöningen noch die Seilerei Danzfuß Wengler Lutze. Geführt wurde sie zuletzt von Walter Lutze – in der siebten Generation. Die Liebe zu seinem Handwerk wurde ihm von Vater, Großvater und Urgroßvater in die Wiege gelegt.
Kein Wunder, dass der heute 85-Jährige sich nach dem Schließen seines Betriebes nicht einfach zur Ruhe setzte, sondern mit Unterstützung der Stadt Schöningen ein kleines Seilereimuseum ins Leben rief. Es befindet sich im Torhäuschen des Schöninger Schlosses und bietet mit dieser Umgebung ein wundervolles Ambiente, den Geheimnissen eines altehrwürdigen Handwerks auf die Spur zu kommen.
Spezialauftrag aus Dresden – Seile für ein über 300 Jahre altes Türkenzelt
Es ist ein sonniger Februartag, als Walter Lutze uns in seinem Museum empfängt. Der erste Blick richtet sich natürlich auf die zum Teil über 200 Jahre alten Maschinen und Werkzeuge zur Seilherstellung, die den Raum beinahe vollständig ausfüllen: eine alte Spinn- und Schnürmaschine, Spinnhaken, Spleißnägel, Netznadeln und -hölzer, eine Hanfwaage, eine Knäuelwickelmaschine und noch vieles mehr. Dazwischen und an den Wänden: Seile, Stricke, Fäden, Schnüre, Netze und Gurte in den verschiedensten Stärken und Längen.
Zum Stehen kommen wir vor einem kleinen Strang dreifarbiger Baumwollseile. Überbleibsel eines Spezialauftrags, der 2011 das Fachwissen des erfahrenen Seilermeisters erforderte. Damals restaurierte die Paramentenwerkstatt des Klosters St. Marienberg in Helmstedt für das Dresdener Residenzschloss ein prachtvolles über 300 Jahre altes Türkenzelt. Aufgabe von Walter Lutze war es, die dazugehörigen Seile stilecht nachzuarbeiten.
Seil ist nicht gleich Seil
Schon diese Einführung zeigt, wie vielseitig und anspruchsvoll die Arbeit eines Seilers sein kann. So verschieden sind die Bereiche, in denen Seile benötigt wurden und bis heute benötigt werden, so unterschiedlich und wichtig die Anforderungen, denen sie standhalten müssen: als Kletterseil auf einem Kinderspielplatz, als Teil der Bergsteigerausrüstung, als Flaschenzug, als Tauwerk im Hafen oder auch – insbesondere zu Beginn der Industrialisierung – als Antriebsseile- und Gurte für Maschinen, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
Eingebettet in viele kleine Geschichten und Anekdoten erklärt Walter Lutze den Besuchern seines Museums, aus welchen Materialien diese Seile hergestellt werden und mit welcher Technik. Natürlich anhand der alten, liebevoll gepflegten Maschinen. Vom Kämmen und Reinigen der Hanffasern (Hecheln) über das Verdrehen der Litzen zu einem Seil. Wobei man als Besucher ein ums andere Mal konstatiert, dass allein die Handhabung der alten Geräte eine Kunst für sich ist.
Rückwärts zum Ziel
Zum Abschluss eines Besuches im Seilereimuseum in Schöningen lädt Walter Lutze seine Gäste ein, bei der Fertigung eines Seiles zu helfen. Man darf fleißig kurbeln, während der Seilermeister mit dem Leitholz vier Litzen zusammenführt, die er rückwärtsgehend aus dem gehechelten Hanf gesponnen hat. Dieser Arbeitsvorgang, ein typischer für den Seiler, wurde in folgendem Sinnspruch verewigt: „Wenn Meister Seiler rückwärts geht, beweist, dass er sein Fach versteht. Ein anderer, der vorwärts will, kommt nicht auf diese Art zum Ziel.“