Sie heißen „der Grimmige vom Steinbruch“, „Schlitzohr“ oder einfach nur „M7“: Luchse, die seit über 16 Jahren wieder im Harz zu Hause sind. Dass sich die gefährdete Tierart mit den schicken Ohren hier etablieren konnte, ist nicht zuletzt Ole Anders zu verdanken. Der Förster vom Nationalpark Harz hat mit seinem Team vor über zehn Jahren 25 „handverlesene“ Exemplare aus europäischen Tierparks in die Freiheit entlassen – und die Waldkatzen noch immer fest im Visier. Jeden Tag.
Faszination Pinselohren
– wie Ole Anders die Wege der Luchse ergründet
Wider Erwarten legt er sich dafür allerdings eher selten im Wald auf die Lauer, sondern sitzt meistens am Schreibtisch. Er sammelt Daten, wertet sie aus und koordiniert die Arbeit seines Teams. Am Schreibtisch treffe ich ihn auch an. Auf dem Computerbildschirm präsentiert er eine Deutschlandkarte, gespickt mit blauen, roten und grünen Flächen, Punkten und Pfeilen. Sie zeigen die Wanderwege und Ausbreitungsgebiete.
„Wir gehen davon aus, dass zurzeit rund 50 ausgewachsene Tiere plus Jungtiere im Harz unterwegs sind“, erzählt er. Ein erwachsener Luchs habe ein Streifgebiet von etwa 100 Quadratkilometern. Es gibt aber offenbar auch besonders wanderfreudige Exemplare, die auf einer drei- bis vier Mal so großen Fläche unterwegs sind. Einmal im Jahr schickt Anders Daten über das Luchsvorkommen in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt an das Bundesamt für Naturschutz.
Grenzgänger mit Pinselohren
Das Harzer Luchsprojekt ist ein Riesenerfolg. Anfangs hätten Fachkollegen noch geunkt, Autobahnen und Äcker rund um den Harz seien unüberwindbare Hindernisse für die Waldkatzen, erzählt Anders. Doch das konnte sein Team mittlerweile widerlegen: Die Luchse breiten sich aus, ziehen vor allem nach Südwesten, gen Hessen und Nordrhein-Westfalen. „Gerade schicken sie sich an, die Weser zu überqueren“, erzählt der Forscher.
Das Ziel ist, dass sich die Tiere mit Artgenossen aus anderen Regionen, etwa mit jenen eines gerade erst gestarteten Auswilderungsprojekt in der Pfalz, mit Luchsen aus Bayern und solchen mischen, die aus der Schweiz gen Deutschland ziehen. Die genetische Vielfalt ist wichtig für das Überleben einer Art.
Detektivarbeit für den Artenschutz
Die Wege der Luchse zu ergründen, ist gar nicht so einfach. Ole Anders setzt dabei auf mehrere Methoden. In den Wäldern nehmen fest installierte Kameras Fotos auf. Am charakteristischen Fleckenmuster kann der Forscher die Tiere identifizieren. „Allerdings haben die Harzer Luchse eher wenige und sehr kleine Flecken. Das ist schon ein bisschen was für Fortgeschrittene“, erzählt er und lacht.
Ein paar Luchse tragen zudem mit GPS-Ortungssystemen bestückte Halsbänder und senden regelmäßig eine SMS mit den letzten Aufenthaltsorten. „Vorausgesetzt, es ist dort gerade kein Funkloch“, betont Anders. Das komme tief im Wald leider öfter vor.
Außerdem nehmen die Forscher Haar, Kot- und Speichelproben und lassen die DNA analysieren. Kein leichtes Unterfangen, denn über das Erbmaterial der Luchse ist weit weniger bekannt als über das menschliche. „Analysen und Deutung funktionieren nicht so einfach wie in einem Tatort-Krimi“, betont Anders. Um hier weiterzukommen, arbeitet er eng mit Wissenschaftlern der Frankfurter Senckenberg Gesellschaft zusammen.
Als Nächstes will Anders herausfinden, was die heutigen Harzluchse genetisch mit jenen gemeinsam haben, die hier ursprünglich unterwegs waren. Der letzte Luchs wurde 1818 geschossen. Ein Gedenkstein bei Lautenthal erinnert noch daran. „Es gibt noch zwei Präparate, eines davon im Naturhistorischen Museum in Braunschweig, die wir untersuchen wollen“, erzählt der Förster.
Beim Start des Luchsprojekts übernahmen das Land Niedersachen und die hiesige Landesjägerschaft die Finanzierung. „Es ist uns sehr wichtig, dass Jäger die Wiederansiedlung der Luchse durchführen und es ist sicher auch ein Grund für den Erfolg“, glaubt Anders, der selbst Jäger ist und die Vorbehalte kennt. In Bayern etwa sei dies nicht der Fall gewesen. Ein Grund dafür, dass es die Tiere dort nach wie vor schwer haben.
Als Erfinder des Vorhabens sieht er sich indes nicht. „Im Jahr 2000 und davor haben Andere das Luchsprojekt durchgesetzt und federführend umgesetzt“, sagt er. Seine Rolle dabei sei erst mit den Jahren gewachsen.
Um Orte zu finden, wo ein Luchs war, dort Proben zu nehmen oder gar einen zu fangen, um ihn dann mit einem Sendehalsband zu bestücken, sind die Forscher vor allem auf Hinweise von Anwohnern und Spaziergängern angewiesen. Deshalb ist Anders immer in Rufbereitschaft. „Wenn beim Fund frischer Luchsbeute eine Fangchance besteht, geht es sofort los“, erzählt er. Da die Tiere mittlerweile schon weit über Landesgrenzen hinaus unterwegs sind, muss auch der Forscher zum Teil lange Strecken zurücklegen. Und er ist gefragt, wenn ein Luchs doch mal ein Nutztier gerissen hat, eine Ziege, ein Schaf oder ein Tier in einem Wildgatter. Dann kümmert er sich um einen finanziellen Ausgleich.
„Wie ein Sechser im Lotto“
„Es ist definitiv kein Job für jemanden, der gerne pünktlich Feierabend macht. Aber für mich ist es wie ein Sechser im Lotto“, sagt Ole Anders. Raubtiere, ihre Jagdstrategien und Lebensart hätten ihn schon immer fasziniert. Und auch wenn er sich um eine rein wissenschaftliche Haltung bemüht, hat er auch eine emotionale Beziehung zu den Tieren: „Ein Forscher ist auch nur ein Mensch und man muss sich die Luchse ja nur mal anschauen. Sie sind schon echte Hingucker.“
Ob das auch der Grund dafür ist, dass die Pinselohren im Vergleich zum Wolf ein besseres Image haben? „Ja, aber nicht nur deshalb“, glaubt Anders. „Der Luchs ist längst nicht so präsent und er hat eben nicht das Rotkäppchen umgebracht.“ Das Märchen sei für die Ängste definitiv mitverantwortlich.
Ein Ende des Luchsprojekts ist übrigens noch nicht in Sicht. Denn was passiert, wenn eine Art nach der Auswilderung zu früh sich selbst überlassen wird, ist gerade in den französischen Vogesen zu sehen. „Dort gibt es praktisch keine Luchse mehr“, berichtet der Förster. „Deshalb ist es einfach wichtig, wachsam zu bleiben und zu beobachten, wie es weitergeht.“