ModeZeiten in der Kegelbahn. Hier werden wechselnde Ausstellungen gezeigt. Meike Buck

Zeit erleben in den ZeitRäumen

Es ist kalt, der Nebel hängt über den Feldern, irgendwie mag es nicht so richtig hell werden heute. Genau das richtige Wetter für einen Museumsbesuch. Seit dem Jahr 2011 laden die ZeitRäume in Bodenstedt ein, Geschichte vom Kaiserreich bis in die 1970er-Jahre zu entdecken.

Ich bin mit Christoph Mayer verabredet, er ist Vorsitzender des Bürgervereins ZeitRäume Bodenstedt e.V., der den Betrieb der Hofstelle mit ehrenamtlichen Kräften unterstützt und Veranstaltungen auf dem Hof organisiert. Das 1878 errichtete Haupthaus ist jedoch „kein Museum“, wie er betont, sondern ein „Zeitort“. Als die letzte Eigentümerin starb, konnte die Gemeinde Vechelde den Hof kaufen und so vor dem Abriss bewahren. Schließlich richtete sie dort diesen besonderen Geschichtsort ein.

Meike Buck
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130 Jahre lebendige Geschichte

Wir stehen in der Eingangsdiele des Hauses, das Tageslicht von außen bringt die farbigen Bleiglasfenster zum Leuchten und malt ein buntes Muster auf die Bodenfliesen. Das Besondere des Hauses, erklärt mir Christoph Mayer gleich zu Beginn, ist die originale Ausstattung der Räume. Alles, was hier steht, hängt und liegt, wie Möbel und Einrichtungsgegenstände, aber auch Malereien an Decken, Wänden und Böden und Kachelöfen stammt von den Bewohnern des Hauses. „Es wurde nichts hinzugekauft.“ Der bunte Stilmix, der sich daraus ergibt, zeigt, wie jede Generation ihre Spuren hinterlassen hat, ein Jugendstil-Kachelofen, das Hochzeitsdatum in den bunten Fenstern, die geblümte Tapete im Wohnzimmer. Schlichte Stelen erläutern jeweils die Funktion des Raumes, zeigen Fotos oder spielen Audiodokumente ab.

Gaststätte mit Telefonanschluss

Wir beginnen unseren Rundgang im ehemaligen Gastraum. Familie Seggelke, der der Hof gehörte, betrieb die Gaststätte bis 1934. Bis dahin war sie Treffpunkt und Kommunikationszentrale des Ortes; davon zeugt auch ein langer Tisch, der fast den ganzen Raum einnimmt. In einer Ecke ist ein Teil der Wand freigelegt, um zu zeigen, dass sich hier früher eine Durchreiche zur Küche befand. So manch ein Glas Bier und Schnaps hing hier über die Theke, davon erzählt Agnes Meier in einem Interview, das über kleine Lautsprecher zu hören ist. Mit knarzender Stimme und in ostfälischem Platt erzählt sie von feucht-fröhlichen Feiern und wie schon mal ein angetrunkener Gast mit der Schubkarre nach Hause gefahren werden musste.

„Rrrrring“ – laut klingelt ein Telefon. Erschrocken fahre ich zusammen. An der Wand hängt tatsächlich ein alter Apparat. „Die Gaststätte bekam etwa 1910 den ersten öffentlichen Telefonanschluss des Dorfes, der bis 1913 hier hing. Wer jemanden anrufen wollte, kam hierher“, erklärt mir der Vorsitzender des Bürgervereins. Heute beinahe unvorstellbar, denke ich und taste nach meinem Smartphone in der Jackentasche.

Im nächsten Raum ist dann die weite Welt gleich in Bodenstedt. Ein Verwandter der Familie wanderte Ende des 19. Jahrhunderts nach Kamerun aus. Stolz schickte er Fotos und Andenken in die Heimat, ein Leopardenfell, verschiedene Gegenstände der Einheimischen und zahlreiche Fotos. Als der Prinzregent Johann Albrecht von Mecklenburg das Herzogtum Braunschweig bereiste, schmückte die Familie das Haus mit den afrikanischen Jagdtrophäen.

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Arbeitszimmer in grün

Gegenüber der Gaststube befindet sich das Arbeitszimmer von Rudolf Paes, der Ehemann von Marie Luise, geborene Meier, der letzten Bewohnerin des Hofes. Nach den verspielten Ornamenten und der leuchtenden Farbigkeit der Diele herrscht hier Nüchternheit. Der wuchtige Schrank mit den Brauschweiger Löwentatzen statt gewöhnlicher Füße war ein Geschenk zur Verlobung des Paares 1938 – von Tante Helene. Die aufwendige Kassettendecke, die eigentlich eher in ein Schloss oder Gutshaus passen würde, dokumentiert den Wohlstand der Familie. Dieser sollte bewusst nach außen gezeigt werden. Ganz in dem Stil ist auch die übrige Einrichtung des Raumes, die Sitzgarnitur in schwerem Dunkelgrün gehalten. Passend, denke ich, schließlich war Paes Forstmeister. Aber in den 1950er-Jahren war er auch Standesbeamter. Heute kann wieder auf dem Hof geheiratet werden, die Gaststube ist offizielles Trauzimmer der Gemeinde Vechelde.

Hierzu passend referiert Herr Mayer mir die Familiengeschichte der Hofbesitzer. Paes, Meier, davor Seggelke – mir schwirrt ein wenig der Kopf von so viel Namen und verwandtschaftlichen Beziehungen; wer mit wem und wann. Bemerkenswert finde ich, dass der Hof über mehrere Generationen immer an die Töchter der Familie weitergegeben wurde, und der Ehemann zog dann zu ihr. Ungewöhnlich, da sonst meist die Söhne die Höfe der Väter übernahmen.

 

Weit verzweigte Familiengeschichte

Immer wieder fallen mir kleine Stellen auf, an denen die Fassungen der Wände freigelegt sind, Zeitfenster, nennt Herr Mayer sie. „Wir wollen zeigen, wie sich die Bemalung der Wände im Laufe der Jahrhunderte verändert hat. Aber wir haben uns bewusst dagegen entschieden, eine Wand komplett freizulegen oder zu rekonstruieren.“ Denn eine „originale“ Bemalung gibt es ja nicht und auch die Veränderungen gehören zum Haus.

In einem kleinen Raum hängt ein großer Stammbaum, hier finde ich die Namen wieder, die Herr Mayer so selbstverständlich verwendet, als würde er sie alle kennen – die Meiers, die Seggelkes, die Paes‘, die Lauensteins. Der Hof blieb über mehrere Jahrhunderte im Besitz einer Familie und wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Verschiedene Fotos zeigen zudem die Hofbewohner, stolz posierend im neuen Auto auf dem Hof, bei der Feldarbeit, eine Hochzeitsgesellschaft vor dem Tor. Ein wenig wachsen sie mir auch schon ans Herz, die Menschen, die hier ein- und ausgegangen sind und deren Spuren wir immer wieder begegnen.

Meike Buck

Repräsentation im Salon

„Halt“, Herr Mayer hält mich auf, als ich in den nächsten Raum gehen möchte. „Betreten nur mit Filzpuschen.“ Also steigen wir in die großen Überschuhe und schlurfen in den Salon. Grund für die Vorsichtsmaßnahme ist der bemalte Dielenfußboden, der geschont werden muss. Auch die Decke ist mit Ornamenten verziert. An der Wand steht ein schwarzglänzend poliertes Klavier – natürlich ein Braunschweiger Fabrikat der Firma Zeittler & Winkelmann. Vorsichtig öffne ich den Deckel, es wird bei hier stattfindenden Konzerten regelmäßig gespielt. Und auch ich kann es hören. Die Braunschweiger Hymne erklingt; auch in einer Jazz-Version – wenn auch nur vom Band. Hier wurde ganz offensichtlich repräsentiert. Ich sehe die kleine Gesellschaft vor mir, die Herren im schwarzen Gehrock, die Damen in festlichen Kleidern. Die Töchter des Hauses erhielten eine gute Ausbildung, die Familie legte Wert auf eine standesgemäße Erziehung.

 

Durch das Zeitportal

Herr Mayer hat mich vorgewarnt, wir durchschreiten nun das Zeitportal. Langsam öffnet sich eine Tür und Musik erklingt. Gespannt blicke ich in den Raum, der sich nun nach und nach vor mir erschließt. Die Musik wechselt vom feierlichen Kaiserwalzer zum lockeren Charleston der 1920er-Jahre. Ein flotter Marsch und der Ausschnitt aus einer Rede Adolf Hitlers folgen. Schnell wird mir klar: die Zeiten haben sich geändert. „Welten stürzen ein, Welten werden aufgebaut“, wie die Ehefrau des Forstmanns Rudolf Paes an ihn schreibt. Der Brief ist auf einem großen Tisch aufgedruckt, verschiedene Dokumente und mehrere Kopfhörer laden zur Beschäftigung mit den Zeitzeugnissen ein.

„Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen viele Flüchtlinge und aus ihrer Heimat in Schlesien und Pommern vertriebene Deutsche nach Bodenstedt“, erläutert Christoph Mayer. Plötzlich lebten doppelt so viele Menschen in dem Dorf, mussten untergebracht, versorgt werden. Eindrucksvoll schildert er die Zeitumstände. Ich kann nachvollziehen, dass es für alle Beteiligten keine einfache Situation war, für die, die schon da waren nicht und auch nicht für die, die hinzukamen. In dem Raum, in dem wir nun stehen, lebte bis in die späten 1960er-Jahre eine Familie aus Königsberg. Ein Sohn der Familie war später Heimatpfleger in Bodenstedt und hat seine Erinnerungen an die Zeit aufgeschrieben.

Meike Buck

Zwangsarbeiter und Flüchtlinge im Tanzsaal

Auch in mehreren kleinen Räumen, die vom großen Tanzsaal abgetrennt wurden, lebten Vertriebene auf engstem Raum beisammen. Keine Privatsphäre, eine abgeteilte Ecke im Saal diente als Küche, zur Toilette musste man den Hof überqueren und das Waschbecken mit dem fließenden Wasser wurde erst 1949 eingebaut. Trotz eines beklemmenden Gefühls, muss ich schmunzeln, als Herr Mayer mich auf einen Schrank hinweist. Ein Frisör, der hier wohnte, hat sorgfältig Porträts aus Modezeitschriften ausgeschnitten und die ganze Rückwand damit beklebt – als Modellvorlagen für seine Frisuren.

Doch in dem Raum, wo früher die Dorfbewohner das Tanzbein schwangen, spielte sich noch ein anderes Kapitel deutscher Geschichte ab. Ab 1942 wurden hier Zwangsarbeiterinnen untergebracht. Bis zu 18 Frauen, überwiegend aus der Ukraine, die auf den Höfen der Umgebung arbeiteten, schliefen in dem großen Saal in Feldbetten. In vielen Regionen fehlten die Männer – sie standen an der Front oder waren schon gefallen. Die deutsche Wehrmacht hatte Frauen und Männer aus den besetzten Gebieten verschleppt, die nun die fehlenden Arbeitskräfte ersetzen sollten. Eine bedrückende Geschichte, die hier durch die originalen Räume lebendig wird. Dass alles so erhalten geblieben ist, ist einzigartig und fand auch bundesweit Beachtung. Meist wurden die Provisorien schnell abgebaut, wenn die Menschen wieder weg waren.

 

Abschluss bei Kaffee und Kuchen

Eine steile, knarzende Treppe führt wieder ins Erdgeschoss und zur Kegelbahn. Wer hier oben feierte, musste einigermaßen nüchtern bleiben, um heile über die schmale Treppe wieder nach unten zu gelangen. Wo früher die Kugeln rollten, werden nun wechselnde Sonderausstellungen gezeigt, zurzeit geht es um „ModeZeiten“. Agnes Meier hatte ein großes Faible für luxuriöse Mode- und Gesellschaftszeitschriften, sie bilden den Grundstock für die kleine Ausstellung. Und ich bin stolz, als ich sie auf den Fotos wiedererkenne, Agnes Meier, Marie Luise Paes und einige andere. Ein wenig wie alte Bekannte.

Ein gemütliches Hofcafé im ehemaligen Pferdestall lädt dazu ein, das Gesehene und Erlebte bei Kaffee und Kuchen noch einmal zu reflektieren. Es sind eindrückliche Geschichten, die Christoph Mayer mir erzählt hat. Und es ist spannend zu sehen, zu hören und zu erleben, welche Auswirkungen die Veränderungen der Geschichte auf ein Dorf, einen Hof, eine Familie haben. Hier werden die sonst so abstrakten Vorgänge aus den Geschichtsbüchern lebendig und bekommen ein Gesicht.

Informationen

ZeitRäume Bodenstedt
Hauptstraße 10
38159 Vechelde-Bodenstedt

Öffnungszeiten
Montag bis Freitag nach vorheriger Absprache für Gruppen
Samstag 14 bis 17 Uhr
Sonntag 11 bis 17 Uhr

Hofcafé
Samstag und Sonntag 14 bis 17 Uhr

www.zeitraeume-bodenstedt.de