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Das Beachvolleyballteam der Lebenshilfe Braunschweig. Inga Stang

Special Olympics: Athletisch mit Handicap
Besuch bei den Sportlern der Evangelischen Stiftung Neuerkerode und der Lebenshilfe Braunschweig

Die Special Olympic World Games finden 2023 erstmalig in Berlin statt. 7000 Sportlerinnen und Sportler aus 190 Ländern präsentieren hierbei die Welt des inklusiven Sports und messen sich in insgesamt 26 Sportarten. Mit dabei: das Braunschweiger Beachvolleyball Team der Lebenshilfe.

Auch die Stiftung Neuerkerode engagiert sich im Bereich des inklusiven Sports. Ich durfte mit Vertretern der Institutionen und Sportlerinnen über ihre Vorfreude auf die Spiele sowie über die Bedeutung von Sport für Inklusion im Alltag sprechen.

Es ist Trainingshochphase beim Unified Beach Volleyball Team der Lebenshilfe Braunschweig, als ich sie im Juni für ein Interview besuche. Zweimal die Woche trifft sich das Team, um neue Würfe und Taktiken zu üben. Zusätzlich finden Trainingslager an den Wochenenden statt. Grund hierfür sind die bald anstehenden Special Olympics – die Olympischen Weltspiele für Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. Als eine von zwei deutschen inklusiven Beachvolleyball-Mannschaften wurde das Team gefragt, ob es an den Weltspielen teilnehmen möchte. Eine große Ehre, die alle Teammitglieder sehr stolz macht. Eines dieser Teammitglieder ist Hanna Pitsch.

Selbstbewusst durch Sport

Hanna spielt seit einem Jahr in der Mannschaft und macht zusätzlich seit drei Jahren Yoga.  Die Leidenschaft für Beachvolleyball liegt bei ihr in der Familie: „Meine Mutter und meine Schwester spielen Volleyball und haben mir geraten, dass auch einmal auszuprobieren.“

So wie vielen Menschen mit Einschränkungen fiel es ihr zu Beginn schwer, die verschiedenen Würfe und Taktiken des koordinatorisch anspruchsvollen Sports auf Anhieb umzusetzen: „Es war am Anfang dolle schwierig, aber mittlerweile geht es viel besser.“ Auch wenn sie als Auswechselspielerin nur bei der Eröffnungsfeier dabei sein darf, freut sie sich sehr auf die Spiele: „Ich drücke den anderen sehr die Daumen! So macht man das! Teamspirit!“

Selbstbewusst stellte sich Hanna gemeinsam mit ihrem Teamkollegen Marcel im Januar für ein Fotoshooting für die Kamera und wurde so zum Werbegesicht der Special Olympics Niedersachsen Mitte Mai. So selbstbewusst sind längst nicht alle Menschen mit Einschränkungen.

Der Sport kann jedoch einigen dabei helfen, ein positiveres Selbstbild zu entwickeln, berichtet Trainer Frank Rogalski. Er ist Abteilungsleiter für die berufliche Bildung in der Lebenshilfe Braunschweig und betreut seit zwei Jahren als ehrenamtlicher Trainer die Beach Volleyball Gruppe. „Wir nehmen eine deutliche Steigerung von Selbstbewusstsein bei den Spielerinnen und Spielern in unserem Team war. Da scheint der Sport wirklich etwas zu bewegen.“

Teambewusstes Handeln und weitere Eigenschaften beobachten wir - wie sollte es anders sein – auch beim inklusiven Sport. Niederlagen verkraften, nach Taktik spielen – all das funktioniert und trägt seinen Teil bei,“ erzählt mir Rogalski im Gespräch. Deutlich wird dies zum Beispiel bei der Suche nach einem Arbeitsplatz oder einer Ausbildung außerhalb der Einrichtung. Aber auch selbstbewusst durch die Innenstadt zu laufen fällt vielen leichter, seitdem sie am Sport teilnehmen. Ähnliche Erfahrungen hat Christian Vaterodt, Gesamtleiter Bildung, Freizeit und Kultur der Evangelischen Stiftung Neuerkerode gemacht.

Vorbehalte bei regulären Vereinen

Die Stiftung Neuerkerode versucht ganz bewusst, ihre Bewohnerinnen und Bewohner in Bewegung zu bringen und so ihre Eigenständigkeit zu fördern. „Förderung von Teilhabe führt aus unserer Erfahrung immer zu mehr Selbstbewusstsein bei den Menschen. Das merken wir nicht nur im Sport, sondern auch bei anderen Freizeitbeschäftigungen.“

Eine Person, bei der er diese Entwicklung aus erster Hand mitverfolgen konnte, war Ann-Christin Waldmann. Seit 2016 macht Ann-Christin Judo und hat sich mittlerweile den orangenen Gürtel erkämpft. Schon als Kind wollte sie sich im Judo auszuprobieren: „Meine Mutter hat immer Judo gemacht und ich wollte das auch gerne. Meine Eltern hatten aber immer Angst, dass ich geärgert werde, deshalb mache ich das erst seit ich in Neuerkerode eingezogen bin.“

So geht es vielen Bewohnerinnen und Bewohnern der Stiftung, die aufgrund fehlender Angebote in den regulären Sportvereinen häufig keinen Anschluss finden. Der inklusive Sportclub Neuerkerode will dies ändern und bietet seit 2005 diverse Sportarten für Menschen mit Beeinträchtigung an. Doch warum ist es so schwierig für Menschen mit geistigen Behinderungen, die Angebote regulärer Vereine wahrzunehmen?

Laut Christian Vaterodt sind es immer die gleichen Vorbehalte, die Sportvereine davon abhalten, ihr Angebot zu öffnen: „Häufig heißt es, ja, das wäre gut, aber wie ist das mit der Betreuung und was ist, wenn etwas passiert. Danach folgt meist der Einwand, dass es mit den Wettkämpfen dann ja schwierig werden würde.“

Gleiche Erfahrungen hat auch Frank Rogalski gemacht: „Manche trauen sich auch einfach nicht die Arbeit mit Menschen mit Einschränkungen zu. Dann stellen sie sich Fragen, wie man die Personen integrieren, begleiten oder betreuen muss. Dabei ist dies in den meisten Fällen gar nicht notwendig.“ Ein Aspekt, der durchaus einen Unterschied macht, ist der Leistungsanspruch. „Wenn wir unter Leistungsgesichtspunkten Sport treiben, ist es für Menschen mit Einschränkungen häufig sehr schwer mitzuhalten,“ berichtet Frank Rogalski. „Sobald sie Leistungsdruck haben und Spiele gewinnen müssen, wird es eine andere Welt.“

Spaß anstelle von Leistungsdruck

Doch auch hier gibt es Ausnahmen von der Regel. Judoka Ann-Christin könnte es sich durchaus vorstellen, in einem regulären Wettkampfteam zu kämpfen. Bei den inklusiven Landesmeisterschaften im Judo hat sie sich gegen 30 weitere Athletinnen aus ganz Niedersachsen durchgesetzt und es auf den zweiten Platz geschafft. Auch bei den deutschen Meisterschaften in Neubrandenburg war sie dabei.

Die meisten Sportlerinnen und Sportler haben jedoch geringe Chancen, dem Leistungsdruck im Wettkampfsport standhalten zu können, berichtet Frank Rogalski. Die Lösung sind Freizeitteams, bei denen der Spaß am Sport und das gegenseitige Kräftemessen im Vordergrund stehen. Der Braunschweiger Judoclub ist in diesem Bereich bereits Vorreiter und bietet seit Jahren Kurse an, in denen Menschen mit und ohne Beeinträchtigung gemeinsam trainieren können.

Auch dem Beachvolleyball-Team der Lebenshilfe geht es vor allem um den Spaß an der Sache. Ihre Chancen, bei den Special Olympics auf dem Treppchen zu landen, schätzen sie eher gering ein. Da es nur zwei inklusive Beachvolleyballmannschaften in Deutschland gibt, war es schlicht Glück für die Gruppe, an der Olympiade teilnehmen zu dürfen: „Wir freuen uns sehr dabei zu sein, aber sehen keine realistischen Chancen im Spiel gegen andere bestehen zu können. Alle freuen sich jedoch total, dabei zu sein und das neu gelernte aus den Trainings im Wettkampf umsetzen zu können. Und wer kann sich schon rühmen, jemals einen Punkt bei einer Olympiade gemacht zu haben? Viele Sportlerinnen und Sportler gibt es nicht, denen diese Ehre zuteilwird. Vor diesem Hintergrund sehen wir das – ohne jeden Leistungsdruck.“

Das Beachvolleyballteam der Lebenshilfe Braunschweig. Inga Stang
Das Beachvolleyballteam der Lebenshilfe Braunschweig freut sich sehr, bei den Special Olympics dabei zu sein.

Wir sind Feuer und Flamme

Die Vorfreude auf die Special Olympics ist bei den Bewohnerinnen und Bewohnern Neuerkerodes und den Klienten der Lebenshilfe mittlerweile mindestens genauso groß wie beim Wettkampfteam selber. „Es kommen Menschen aus Italien, Spanien, Ungarn – das wird eine Riesenaufgabe für Berlin“, erzählt Hanna Piesch aufgeregt.

„So ein Ereignis gibt es in den nächsten zehn Jahren nicht wieder in Deutschland. Wir sind deshalb alle Feuer und Flamme!,“ ergänzt Frank Rogalski. Viele fahren extra zur Eröffnungsfeier nach Berlin, andere verfolgen die Parade und die anschließenden Spiele im Fernsehen, wo viele Wettkämpfe live übertragen werden. Das mediale Echo rund um die Special Olympics in Berlin, so glaubt Christian Vaterodt, könnte auch langfristig einen positiven Effekt auf die Welt des inklusiven Sports haben: „Ich hoffe, dass vor allem die Übertragung der Spiele im Fernsehen dazu führt, dass das Thema nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung erhält und den Sport nach vorne bringt.“

Hierfür braucht es aber noch mehr Vereine, die sich öffnen, noch mehr Angebote für Menschen mit Einschränkungen – ohne Leistungsdruck und Vorurteile. Zwei weitere Vereine haben bereits ihr Interesse bekundet, in Kürze inklusive Teams zu gründen. Hoffentlich ziehen künftig weitere nach. Ich würde es mir auf jeden Fall wünschen. Bis dahin drücke ich unserer Braunschweiger Beachvolleyball Mannschaft die Daumen und werde mit Sicherheit das ein oder andere Spiel der Special Olympics verfolgen. Teamspirit!