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Stadionfunk ­
– die Eintracht-Braunschweig-Kolumne: „Großmutter aller Derbys“

Schon seit 1900 beharken sich die Blau-Gelben und die Roten immer mal wieder. Am Sonntag war Hannover 96 zu Gast im Eintracht-Stadion. Ein Spiel, zwei Perspektiven. Unsere Regionäre Kay Rohn und Malte Schumacher berichten.

Kay Rohn: Derby ist nicht gut für mich. Oliver Pocher postet bei Twitter: „Geiles ‪#Derby in Braunschweig!! ‪@Hannover96 gut gefightet! Und hoffentlich bleibt alles nach dem Spiel ruhig …“ Zum Spiel werde ich von einem Hubschrauber begleitet. Ich kreuze mit dem Fahrrad die Route der Fandemo: Nibelungenplatz, 12 Uhr, schwarz gekleidete Menge, Mannschaftswagen und wenig Fußballstimmung. Ich hab keine Lust auf das Spiel. Ich freue mich auf Wolfgang, der mit mir das Spiel anschaut.

 

„Hoffentlich bleibt nach dem Spiel alles ruhig …“

Weiß/blau (Polizei) schlägt blau/gelb. Die Polizei hat sich mit ihren Einsatzzentralen in öffentlichen Einrichtungen in der Umgebung platziert. Es ist alles notwendig: Straßensperren, Kontrollen, Trennen der Fanlager und zahlenmäßig große Präsenz der Polizei. Aber es ist so unnötig. Im Vorfeld des Spiels erzählt Hans Siemensmeyer, ehemaliger Kapitän von Hannover und Nationalspieler: „Es war selbstverständlich, dass wir (die gesamte Hannoveraner Mannschaft) im Dezember 1968 zur Trauerfeier für Jürgen Moll nach Braunschweig gefahren sind.“ Was für eine Geste. Was braucht es, um diesen Hass, der einem beim Derby entgegenschlägt, aufzulösen? „Hoffentlich bleibt hinterher alles ruhig“, denke ich.

Das Kräftemessen auf dem Rasen ist ok. Der körperliche Einsatz war geringer, als ich erwartet hatte. Sechs gelbe Karten und ein Schiedsrichter mit Fingerspitzengefühl. Wenn ich mich umschaue auf der Tribüne, sehe ich Boris Pistorius, Innenminister für Niedersachsen, übrigens leidenschaftlicher Osnabrück-Fan. Außerdem in den Reihen: Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil und der Oberbürgermeister von Hannover Stefan Schostock. Hannover war gut vertreten. Gut zu sehen bei den Toren: Wer nicht blau-gelb war, blieb sitzen. Aber es herrschte Respekt voreinander.

 

Ken, Torfabrik

Von den Rängen Hassgesänge. Die Spieler sind motiviert und unsere Braunschweiger Eintracht startet Angriff auf Angriff. Zwei Tore resultieren daraus und hier muss ich noch einmal ein Riesenlob an Ken Reichel aussprechen. Was macht der Kerl da hinten im gegnerischen Strafraum und mit was für einer feinen Technik, dieses Mal nicht mit einem Gewaltschuss, schießt er den Ball ins Netz: großartig. Ken Reichel ist einer unserer torgefährlichsten Spieler im Kader.

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Nach dem zweiten Tor durch Onel Hernandez (Vorarbeit Reichel!) kommt postwendend die Antwort der Roten und sie verkürzen auf 2:1. So geht es in die Pause. Die zu erwartenden Kommentare blieben nicht aus: „2:0-Führung wie in Dresden“, „wartet mal ab, das war noch nicht alles.“

 

Was ist im Pausentee?

Entspannung in der Halbzeitpause bei den Zuschauern und bei den Spielern. Bei mir Adrenalin pur: Was sagt man einem Team als Trainer in dieser Situation? Anschlusstor kurz vor der Pause. Plane ich eine Systemumstellung? Mache ich eine Auswechslung? Wo gebe ich Impulse? Wie gebe ich Impulse? Die Zeit zwischen Abpfiff und Wiederanpfiff beträgt zehn Minuten. Die Mannschaften gehen in die Kabinen. Patrick Schönfeld signalisiert, dass er ärztliche Unterstützung braucht. Nettozeit in der Kabine ca. 10 Minuten.

Wer mit Mitarbeitern zusammenarbeitet oder eventuell auch Führungsverantwortung in seinem Job hat, der kann aus dieser Situation bestimmt lernen. Gutes und Schlechtes. Ich weiß, dass es Trainer gibt, die in der Kabine mit Bildern arbeiten, eine Präsentation wird kurzfristig von Assistenten vorbereitet und der Trainer geht einzelne Situationen anhand der Bilder durch. Ich appelliere an die eigenen Stärken. Ich zitiere vielleicht noch einmal das 3:0 aus der Bundesligazeit. Was gibt Torsten Lieberknecht seiner Mannschaft auf den Weg? Eher defensiv agieren und auf schnelles Umschalten und Konter bauen? Er muss auswechseln, bei Schönfeld geht es nicht mehr weiter. Kurze Besprechung mit Darius Scholtysik, Bole kommt ins Spiel.

 

Fußballer kochen

Vor zwei Wochen gab es ein Essen, unter anderen mit zwei Spielern unserer Eintracht, Julius Biada und Phillip Tietz, in der wunderbaren Kochschule im Magniviertel. Neben Kochen war ausgiebig Zeit, mit allen ins Gespräch zu kommen. Phillip Tietz erzählte ich von meiner Idee, dass ich diese Viertelstunde „Halbzeitpause“ als Anlass für eine Dokumentation nehmen werde. Sofort erinnerte er sich an verschiedene Mannschaften und deren Trainer. Und vor allem, wie unterschiedlich diese 15 Minuten genutzt werden. Wer diese Kolumne liest und eigene Erfahrungen mit der Halbzeitpause gemacht hat, den bitte ich, mir seine Eindrücke zu schicken.

 

Kein Sieger

Vermeintliche Eintrachtfans schießen mit einer Leuchtrakete in Richtung des Hannoveraner Torhüters. Kurze Unterbrechung, Nebel über dem Platz und das Spiel kann fortgesetzt werden. Hannover ist die aktivere Mannschaft, aber Kumbela hat die Chance zum 3:1 auf dem Fuß. 66. Minute Ausgleich 2:2. Zum Schluss spielen beide Mannschaften, als wären sie mit dem Unentschieden zufrieden. Hannover wechselt in der Nachspielzeit und die Eintracht versucht, sich an der Eckfahne auf der gegnerischen Seite festzusetzen. Schlusspfiff. „Hoffentlich bleibt hinterher alles ruhig.“

Mir ist aufgefallen: Hannover konnte zum wiederholten Male nicht gewinnen in Braunschweig.

Malte Schumacher: Und wieder Terminkollision. Ausgerechnet beim Derby. Anfang April 2016 musste ich mich entscheiden, ob ich dabei sein will beim „Rolling Stone Weekender“ (RSW), dem „Indoor-Komfort-Festival an der Ostsee mit Konzerten, Lesungen und Partys“ (O-Ton Selbstvermarktung). Und ja, ich wollte dabei sein. Angekündigte Bands waren unter anderem Boss Hog (nicht zu verwechseln mit BossHoss!), Kula Shaker und die „alten Helden“ Dinosaur Jr. Im Sommer kam dann der Liga-Spielplan: Super, das Derby zu Hause ist auf das RSW-Wochenende gelegt! Und wieso nicht auswärts in Sandhausen Anfang November? Weil einer immer die Arschkarte zieht …

Natürlich habe ich noch versucht, aus der Nummer rauszukommen: Meine Reisegruppe aber hat sofort signalisiert, nicht zum Derby zu wollen. Sonntags ist der Besuch des dort angeschlossenen Spaßbades mit Monsterrutsche Pflicht für sie. Und meine Block-6-Buddies Hermann und Matze Schröder haben mir schon beim letzten Heimspiel klargemacht, dass sie nicht am Sonntagmorgen um 8.30 Uhr aufbrechen wollen, um pünktlich an der Hamburger Straße zu sein. Also habe ich mich verabschiedet von dem Gedanken, das Derby UND den RSW erleben zu können.

 

„Heimspiel“ an der Ostsee

Aber Moment: In der Festival-Location ist doch eine Sportsbar namens „Heimspiel“, da hatte ich in den Vorjahren samstagsnachmittags mal fünf Minuten zur Zerstreuung in die Sky-Bundesliga-Konferenz reingeschaut … Mein Plan steht: Spätestens um 13.15 Uhr entern wir mit den anderen Braunschweigern am Sonntag die Heimspiel-Bar und alles wird gut.

Oder doch zum Derby …? Beinahe hätte ich mich noch umentschieden, als ich am Donnerstagabend in der Volksbank am Bahnhof bei der Eröffnung der Foto-Ausstellung der „Eisenbahnfreunde Braunschweig“ war. Ebenfalls zu Gast war der Braunschweiger Künstler Dirk Wink-Hartman. Er und seine Frau Heike sind auch immer im Stadion – und auch beim diesjährigen RSW. Prompt fragt mich Heike, ob ich mit ihnen um 8.00 Uhr am Sonntag zurückfahren möchte … Nee, ich hatte mich ja schon entschieden.

Außerdem hat mir der ganze Derby-Alarm im Vorfeld ein wenig die Lust auf das Live-Erlebnis geraubt, die gruseligen Erinnerungen an die letzten beiden Derbys in der Bundesliga sind wieder hochgekommen. Gerade die Auswärtserfahrung am 8. November 2013 war einfach nur anstrengend – kann man ja in unserem Buch nachlesen.

 

Los geht’s

Freitag fahren wir dann um 9.00 Uhr morgens in Henriks Auto los – Jan, Matze Becker und ich auf dem Weg in ein Musik- und Bier-Wochenende … Dinosaur Jr. sind laut und gut, The Notwist klasse.

Am Sonntagmorgen werde ich dann doch nervös. Nein, mit meiner Entscheidung bin ich zufrieden – so ein Ostseewochenende ist gut dafür, den Kopf freizukriegen. Aber der Ausgang des Spiels beschäftigt mich. Meine Frau Andrea hat mir heute morgen um 9.00 Uhr schon ein Bild von sich im neuen Trikot geschickt, das Geburtstagsgeschenk ihrer Schwester für uns beide …. Und ich möchte jetzt so richtig gerne, dass wir heute um 15.30 Uhr acht Punkt Vorsprung auf die Roten haben …!

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Meine Prognose: 1:0. Das Tor macht Hernandez, mit der Pike. Ich singe meinen Mitreisenden zum Frühstück ohne Unterlass „Europa-Pokal“ vor, trage meinen Fanclub-Schal und bin bereit. Spaßbad und Monsterrutsche müssen auf mich verzichten, das klappt sonst nicht mit 13.15 Uhr, ich werde also am Strand spazieren gehen und den Heimsieg herbeimeditieren. Mein Plan steht: Irgendwann am Samstagabend hatte ich der blonden Bedienung im „Heimspiel“ bereits einen Besuch abgestattet, um sicherzustellen, dass da am Sonntag nicht die Sky-Konferenz läuft. „Logisch!“, hat sie gesagt.

 

Nachrichten aus der Heimat

Gegen 12.00 Uhr trudeln die ersten Nachrichten über den Fanclub-WhatsApp-Kanal ein: Straßenbahnen und Busse fallen teilweise aus und die Demo gegen die Betretungsverbote ist unterwegs. Ralf erreicht dann einigermaßen zeitig zu Fuß Block 6 und berichtet von den umfangreichen Sicherheitskontrollen. Um 12.30 Uhr ist er als Erster vom Fanclub im Block. Das ist sonst immer meine Rolle …

Mein Strandspaziergang mit Henriks Schwester Maren lüftet derweil den Musik- und Bierschädel endgültig gut durch. Sie hat früher für Eintracht Hockey gespielt, lebt aber längst in Hamburg und hegt Sympathien für den FC St. Pauli. Ihre Eintracht-Fußball-Beziehung hatte damals aber mal genauso begonnen wie meine und die vieler Stammbesucher: Mit fünf, sechs, sieben vom Vater da mal hingeschleppt und davon ist dann was geblieben.

 

Sechs vor dem Fernseher

Viertel vor eins habe ich die Aufstellung auf dem Display: keine Überraschungen, wie ich finde. Maren und ich plaudern gerade über dies und das, als Hermann aus dem „Heimspiel“ per WhatsApp fragt, wann wir endlich eintrudeln. Upps, schon fünf nach eins! Jetzt aber zackig. Pünktlich um 13.15 Uhr sind wir da, alles ist wie gemalt und bestellt: Michaela und Hermann, Simone und Jörg, Maren und ich – und ein schöner großer Fernseher, auf dem die Vorberichte zum Eintracht-Spiel laufen.

Der Sky-Kommentator will sich entweder einschleimen bei uns oder er hat etwas genommen. Sein Einführungssatz: „Meine Damen und Herren, wenn Dortmund gegen Schalke die Mutter aller Derbys ist, dann ist Braunschweig gegen Hannover die Großmutter! Bereits 1900 spielten diese beiden das erste Mal gegeneinander, das Revierderby hatte seine Premiere erst 1925 …“

 

Guter Start

Okay, danke. Anpfiff – die Roten attackieren sehr früh und gehen unseren Jungs mächtig auf die Knochen, Domi bekommt früh einen Ellbogen ins Gesicht und Jasmin Fejzic wird auch hart angegangen im Fünfer. Der Schiri wirkt aber so, als könne er damit umgehen, er versucht zunächst mal zu beruhigen, auch mithilfe gelber Karten. So richtige Torgefahr kriegen wir zu Anfang nicht an den Start …

Plötzlich aber doch mal Druck im 96er-Strafraum und irgendwie spitzelt Domi so eine Art Flanke rüber zu ChicKen, der das Ding per Fallrückzieher aus acht Metern reinwemmst. Yee-ha! Was für eine Bude … Das Thema Fallrückzieher war ja jahrelang unterbelichtet in Braunschweig, nun passiert das öfter: Domi in der Bundesliga-Saison, Pfitze im August 2015 und nun Reichel. Klasse! Wir atmen durch. Darauf lässt sich aufbauen.

 

Bicycle-Kick

Ich erkläre, dass ich neulich gelernt habe, dass Fallrückzieher auf Englisch „bicycle-kick“ heißt, und wir sind uns einig, dass das einleuchtender klingt als „fall-back-puller“ oder so … Auf einmal pennt Hannover kollektiv und Ornel Hernandez umkurvt den Torwart und macht das 2:0 – noch vor der Halbzeit! Grandios! Der Vogel ist echt eine Verstärkung, Hammer! Aua, nur zwei Minuten später schaffen die Roten den Anschluss, Harnik schießt Decarli so an, dass Fejzic machtlos ist – Scheiße! Mittlerweile sind auch die Spaßbader eingetrudelt – hinsetzen, Klappe halten.

Hermann murmelt: „Boah, Mann, nicht dass wir wieder einen zwei Torevorsprung vergeigen.“ Michaela verbietet ihm sofort die Unkerei. Uns allen aber ist eher mulmig als euphorisch zumute, der Gegentreffer kam zu früh und zu blöd. Über den Sky-Kommentator haben wir unser endgültiges Urteil gefällt: Er muss was genommen haben, denn zwischendurch hat er erzählt, die Abwehrspieler wären so groß gewachsen, „dass sie aus der Dachlatte trinken“…

 

Zweite Halbzeit

Schönfeld muss raus in der Halbzeit, Bole kommt. Und hatten im Verlauf der ersten Halbzeit zunächst die Gästefans ihre Pyromanie ausgelebt, sind zu Beginn von Halbzeit 2 unsere Pyro-Mannis dran, inklusive Leuchtraketen. Das ist überflüssig und wird den Verein mal wieder einen Haufen Geld kosten. Der Schiri unterbricht für ein paar Minuten.

Die Roten wirken auch nun wieder stärker und robuster. So richtig schaffen wir es nicht, das Spiel an uns zu reißen und denen zu zeigen, wer heute gewinnen will und wird. Unsere schnellen Stürmer Hernandez und Domi haben nach einer Stunde dennoch die Abwehr überlaufen, Ornel legt quer auf Domi und Domi – verballert das Ding. Maren schaut mich an und sagt: „Das war eine 150-Prozentige, die muss man machen.“

Ich habe dienstags beim SCH Lampe Braunschweig schon so viele so ähnlich verballert und erkläre ihr den Zusammenhang zwischen Unebenheiten, Grashalmen und verspringenden Bällen. Sie schüttelt den Kopf: „150%ige …!“ Und sie hat ja recht. Wenn Domi den getroffen hätte, wäre das Ding durchgewesen. Stattdessen aber machen die Roten kurz danach den Ausgleich: Nachdem Khelifi unnötig den Ball verloren hat, läuft ein Konter und Karaman wird nicht wirklich aufopferungsvoll daran gehindert, das Tor zu schießen.

 

Glück gehabt

Puh, nun ist die Stimmung gedrückt und alle denken an das 2:3 in Dresden. Maren geht zur Ablenkung flippern. Ich laufe auf und ab und kaue Fingernägel. Wir sehnen den Abpfiff herbei … Und es kostet noch richtig Nerven: Maxi Sauer bekommt den Ball im Strafraum an die Hand, Harnik hat noch Chancen – ich steigere mich in meinen Hospitalismus und tigere nur noch auf und ab. Schlusspfiff – Glück gehabt! Nun Länderspielpause bis zum nächsten Spiel in Bochum am 18.11. und Torsten muss den Jungs bis dahin beibringen, Spiele zu gewinnen, in denen sie zwei Tore Vorsprung haben.