Seit drei Wochen ist der FC Corona zu Gast im Eintracht-Stadion. Kein Spiel, zwei Perspektiven. Unsere Regionäre Malte Schumacher und Kay Rohn berichten.
Stadionfunk - Die Eintracht Braunschweig-Kolumne:
Corona-Pause und good news aus Sierra Leone
Malte Schumacher
Meine letzte Begegnung mit der Eintracht…
...ist schon etwas her. Wann war das nur… Ach ja: Am Montag, 9. März, fiel so gegen 21.05 Uhr das 0:3 in Rostock. In einem grottenschlechten Spiel, in das ich voller Hoffnung hineingegangen war. Voller Hoffnung auf einen Auswärtssieg und auf den Sprung in Richtung der Aufstiegsplätze. 0:3 war auch das Endergebnis, und in der ersten Halbzeit waren wir richtig schlecht. Das war mein letztes Live-Erlebnis mit der Eintracht…
Ablenkung aus Brigitte Village
Bereits an jenem Wochenende aber hatten mich Fotos aus Sierra Leone erreicht, die nach der Rostock-Klatsche im Verbund mit einem kontinuierlichen WhatsApp-Nachrichten-Strom für wunderbare Ablenkung sorgten. Einige Aktive meines Vereins „Löwe für Löwe e.V.“, einer Hilfs-Organisation für Sierra Leone, waren gerade zu einem Projekt-Besuch nach Brigitte Village aufgebrochen, einem Dorf rund 50 Kilometer südlich der Hauptstadt Freetown. Und meiner Freundin Anita hatte ich drei Mitbringsel für die örtliche Fußball-Mannschaft, die „Brigitte Stars“ mitgegeben: ein Paar Adidas-Kaiser-Multinocken (damit habe ich für meine Thekenmannschaft, den SCH Lampe Braunschweig, grandiose Buden erzielt), einen Fußball – und mein erstes Eintracht-Fanclub-Trikot von der "Bewegung 18. Mai".
Blau-gelbe Löwen in Sierra Leone
Die „Brigitte Stars“ laufen gerne in gebrauchter Ausrüstung von Eintracht auf, das hatte Miriam damals noch möglich gemacht. Allein deshalb sind das natürlich wundervolle und in Zeiten des sportlichen Zick-Zack-Kurses der Eintracht auch tröstliche Bilder für mich. Die „Brigitte Stars“ nehmen dieser Tage an einem landesweiten Turnier teil – um so größer fällt die Freude der Spieler über meine simplen Fußball-Entwicklungshilfe-Maßnahmen aus. Unsere Vereins-Vorsitzende, Brigitte Amara-Dokubo (ja, das Dorf heißt ihr zu Ehren so, was ihr ziemlich unangenehm ist) hat den Spieler mit dem größten Trainingsfleiß dazu auserkoren, mein Trikot zu bekommen. Diese Auswahl passt zwar nicht zu mir – ist aber ganz im Sinne aller Coaches dieser Welt.
In Sierra Leone rollt der Ball!
Die SCH-erprobten Kaiser-Multinocken machen zukünftig vielleicht aus seinem Träger einen zweiten Mohamed Kallon – das ist einer der bekanntesten Stürmer aus Sierra Leone. Anita berichtet, dass man vor Ort für 15 Euro Fußball-Schuhe kaufen kann. Auf einem ihrer Fotos wirken die Dinger wie China-Replikas. Aber der Ball ist natürlich das willkommenste aller Mitbringsel – von dem haben alle etwas. Und erst wenn das eigentliche Spielgerät rollt, kann unser aller Liebe Fußball seine volle Anziehungskraft entfalten… Ich werde mal versuchen, meine Fanclub-FreundInnen davon zu überzeugen, den „Brigitte Stars“ künftig regelmäßig zu helfen. Mittlerweile ist das Turnier dort wegen der Pandemie-Bekämpfung unterbrochen, obwohl in Sierra Leone immer noch kein Corona-Fall registriert ist. Bereits seit Januar laufen dort erfolgreiche Präventiv-Maßnahmen – das Land profitiert jetzt von seinen furchtbaren Ebola-Erfahrungen seit 2014.
Lockdown in Braunschweig
Und bei uns? Wann rollt der Ball bei uns wieder? Wann werden wir wieder im Stadion stehen, miteinander Bier trinken, plaudern und singen? Ich sitze seit Tagen im Home-Office, was für mich eigentlich der Normalzustand ist – allerdings habe ich seit dem 16. März keinerlei Außen- oder Klienten-Termine mehr, alles abgesagt. Die Bundes-Mutti hat uns alle via Fernseh-Ansprache darauf eingeschworen darauf, die Krise aktiv zu bekämpfen und daheim zu bleiben. Alle Fußball-Wettbewerbe in Deutschland sind ausgesetzt, die EM 2020 verschoben, und bis mindestens zum 30. April ist auch Pause in Liga 3. Bei Eintracht ist trainigsfrei bis zum 19. April. Das bedeutet, stand heute, acht abgesagte Spieltage, das nächste Match wäre am 2. Mai in Zwickau. Acht Absagen – wohin bitte sollen diese Spiele verschoben werden?
Ablenkung durch Lesen
Sehr merkwürdig waren die ersten Corona-Tage: null Fußball-Meldungen nirgendwo, keine Live-Bilder, keine Ticker-Meldungen, keine Fanclub-Fußball-WhatsApps. Funkstille. Zum Glück aber startete am Tag der Rostock-Klatsche im Print-Montags-KICKER die dreiteilige Serie meines Freundes Martin mit dem Titel „Verbände und kein Ende – wem gehört der Fußball?“. Sehr lesenswert – und wenn ich mich schon nicht mit dem Spiel selber auseinandersetzen kann, dann doch wenigstens mit seinen Business-Hintergründen. In Folge 2 nimmt Martin uns mit an den Anfang des 20. Jahrhunderts, als Pierre de Coubertin und andere den Gedanken vom „Ein-Platz-Prinzip“ manifestierten. Dieses beschreibt die wesentliche Grundlage unseres Fußballs: Wer sich aus der Kreisklasse hochkämpft und irgendwann Deutscher Meister wird, ist der beste deutsche Klub. Die Mannschaft, der Zusammenhalt, der gemeinsame Kampf - darum geht es. Deswegen gehen wir ins Stadion. Nur deshalb konnte Leicester 2016 die Premier League gewinnen.
Bling-Bling
Apropos Premier League: Dort angesiedelt ist der Roman „Nicht wie ihr“ des 27-jährigen Wiener Schriftstellers Tonio Schachinger. Hat Line mir empfohlen, Martins Freundin. Erst dachte ich: „Ein Ösi schreibt über Fußball?“ – aber das Buch liest sich gut weg und nimmt mich mit in die leicht bizarre Bling-Bling-Welt der Fußball-Millionarios. Dem Autor gelingt die Illusion „300 Seiten lang so dicht neben dem Kopf des Fußballprofis Ivo Trifunovic zu verbringen, dass man hinterher praktisch alles über ihn weiß, was er selbst über sich weiß“ (Zitat „Frankfurter Rundschau“). Unterhaltsam, lustig, tiefgründig – unbedingte Kontaktverbots-Lese-Empfehlung!
Virtuelles Teambuilding – geht das?
Und was bedeutet Corona konkret für die Eintracht? Nun, die Mannschaft geht zu keinem guten Zeitpunkt (unterirdisches 0:3 in Rostock) in eine ungewollte Zwangspause, die obendrein spätestens seit dem 22. März mit einem Kontaktverbot verbunden ist. Denn eigentlich könnte ja ein Team, das keines ist (aktuelle Diagnose von Dr. Schumacher zum Zustand der Mannschaft), eine Pause sehr gut dafür nutzen, am Teamgedanken zu arbeiten… Wie aber soll das in der Isolations- und Home Office-Situation möglich sein, mit der auch Millionen ArbeitnehmerInnen und UnternehmerInnen gerade kämpfen? Jeden Tag eine Video-Konferenz zum Thema „Teambuilding“? Mit MC Antwerpen am Mikrofon und DJ Vollmann an den Reglern?
Kurzarbeit
Zugleich aber rückt natürlich auch bei mir die unbefriedigende sportliche Performance der Mannschaft in den Hintergrund, wenn ich an die wirtschaftlichen Folgen der momentanen Situation für die Eintracht denke. Keine Ticket-Einnahmen, keine TV-Gelder – am 18. März ist der 1. FC Kaiserslautern in Kurzarbeit gegangen, am 19. März hat Wolle Benz dann das gleiche für Spieler, Trainer, Geschäftsstelle und Nachwuchsleistungszentrum der Eintracht kommuniziert. Auch hier also sitzen FußballerInnen sowie ArbeitnehmerInnen im selben Boot. Seitdem geistern Szenarien darüber durch die (sozialen) Medien, wie und wann es weitergehen könnte/sollte/müsste mit dem organisierten Fußball… Ich halte mich da raus – die Krise lehrt mich mal wieder Gleichmut.
Die Krise macht kreativ und solidarisch
Rasch entstanden in der Krise ist das Projekt „Blau-Gelbe Einkaufshilfen“. Seit dem 20. März sind blau-gelbe Helfer im Stadtgebiet Braunschweig bis zum Umkreis von 20 Kilometern sowie im Landkreis Goslar unterwegs, um beim Einkaufen und der Rezept- und Medikamentenbeschaffung für Mitbürger aus Corona-Risikogruppen zu helfen. Maßgeblich unterstützt und umgesetzt wird das Projekt durch die Fanabteilung des Vereins, den FanRat Braunschweig e.V. und die Ultra-Szene, aus deren Reihen die ehrenamtlichen Helfer kommen. Cooles Engagement, Kompliment!
Und sonst?
Lasst uns einfach zusammen singen, vielleicht jeden Abend um 18.30 Uhr aus dem offenen Fenster: „Allez, allez – Turn- und Sportverein, besieg‘ den Virus bald und mach‘ uns froh – oh-oh-oh. Und irgendwann, irgendwann danach, spielt die Eintracht wieder vor uns auf – oh-oh-oh…“.
Liebe Eintracht-Freunde: Bleibt gesund, bleibt zuhause, achtet aufeinander – wir sehen uns im Stadion an der Hamburger Straße, da bin ich mir sicher!
Kay Rohn
Alles bleibt anders
Der Rhythmus ist unterbrochen. Wir sind Gewohnheitswesen und jeden Samstag ist Matchday. Eigentlich. Alles fühlt sich anders an und ohne Fußball ist es wie Fasten. Du verzichtest auf etwas - wenn in diesem Fall auch unfreiwillig. Und du hast plötzlich viel mehr Zeit, weil weder die Vorbereitung noch das Einnehmen einer Mahlzeit stattfindet. So ähnlich ist das mit Fußball und Corona.
An Wochenenden fällt mit Vor- und Nachbereitung, etwa dem Lesen von Berichten vor dem Spiel, Netzrecherche über den Gegner und dem eigenen Tüfteln über die Aufstellung einiges weg. Ganz zu schweigen vom Austausch mit Freunden und Bekannten: Gespräche an der Bratwurstbude, bei der VW-Currywurst im Businessbereich, auf der Tribüne, beim Friseur, an der Fleischtheke, im Chat, auf Arbeit, im kurzen Gespräch mit dem Mann vom Bringdienst. Da kommen einige Stunden zusammen. Und am Ende des Tages bilden schließlich Sportschau, das Aktuelle Sportstudio und der NDR Sportclub den Abschluss.
„Cold Turkey“, so heißt ein plötzlicher Entzug von Drogen. Ist Fußball nun eine Droge? Sind wir auf Entzug? Oder ist es nur eine Gewohnheit, der wir plötzlich nicht mehr nachgehen können – und müssen uns verändern? Machen wir Menschen nicht gerne, aber bestimmt hat jeder in den letzten zwei Wochen erfahren, dass Neues nicht nur schlecht sein muss. Die vielzitierten Chancen, die überall entstehen. Die Möglichkeiten der Digitalisierung, neue Nachbarschaftshilfen, Restaurants als Bringdienste. Und wenn wir mal auf Eintracht schauen: Das Angebot von unseren Fans, Einkäufe zu erledigen oder auch das virtuelle E-Football-Match zwischen Marcel Bär und Niclas Stiering von der Spielvereinigung Unterhaching (Ausgang übrigens 1:1). Die Liste lässt sich fortsetzen.
Ganz persönlich
Ich kann von zuhause arbeiten. Ich bin technisch darauf vorbereitet und kann bei der Videokonferenz meinen Hintergrund unscharf stellen. Workshops und Seminare fallen erstmal aus, die muss ich verschieben. Ich versuche kontinuierlich, für meine Bewegung zu sorgen und laufe oder walke täglich.
Mir fehlt aber tatsächlich der rollende Ball. Und der strategische Blick vorab: Welches wäre die richtige Aufstellung? Überhaupt, das Spiel. Die Analyse.
Zur Zeit schreibe ich an meinem Buchprojekt „Halbzeitpause“, recherchiere viel und muss dann auch schon mal das Europapokalspiel-Rückspiel (ich kann es nur empfehlen!) zwischen Dynamo Dresden und Uerdingen 05 von 1986 in einer längeren Zusammenfassung schauen.
Trainer war damals Kalli Feldkamp. Ich durfte ihn vor ein paar Jahren einmal interviewen und er erzählte mir, was damals in der Halbzeit in der Kabine passierte. Uerdingen hatte das Hinspiel in Dresden mit 2:0 verloren und lag im Rückspiel fast aussichtslos mit 1:3 in der heimischen Grotenburg-Kampfbahn zurück. Uerdingen gewann das Spiel mit 7:3 und zog in die nächste Runde ein. Was in der Kabine geschah, verrate ich dann natürlich im Buch! Außerdem habe ich mir das Halbfinale zwischen England und Deutschland bei der EM 1996 angeschaut. Fußball über zweieinhalb Stunden mit aller Dramatik, mit Verlängerung, mit Elfmeterschießen. Auch das kann ich nur empfehlen.
Freundlicher Fan aus Block 5
Ich gehe nur aus dem Haus, um Sport zu machen und einzukaufen. Bei Edeka, nachdem ich meinen Einkaufswagen desinfiziert habe, tritt mir jemand entgegen und spricht mich auf die Eintracht an. Wir kennen uns nicht persönlich, aber gesehen haben wir uns schon einmal. Er arbeitet in Braunschweig, wohnt aber ganz im Westen Deutschlands und fährt dennoch eisern zu unseren Heimspielen – 200 Kilometer hin und wieder zurück. Er steht dann immer in Block 5, und auch ihm fehlt derzeit etwas.
Der Zustand ohne Fußball fühlt sich komisch oder verkehrt an. Und wir kommen unweigerlich ins fachsimpeln. Wie geht’s weiter? Ich glaube, diese Saison wird demnächst abgebrochen und dann irgendwann die nächste gestartet. Wir diskutieren die Abhängigkeiten solcher Entscheidungen. Wir landen dann irgendwann bei unserem Kader und gehen jede Position durch. Und dann ist dieses Gefühl wieder da, Fußball ist wieder da.
11mm
Wer ebenfalls auf Fußball-Entzug ist, dem empfehle ich das Filmfestival „11mm“. Das ist ein im Jahr 2004 gegründetes und jährlich im Frühjahr in Berlin stattfindendes internationales Filmfest, das vom Berliner Fußballkulturverein Brot und Spiele e. V. und mit Unterstützung der Kulturstiftung des Deutschen Fußball-Bundes veranstaltet wird. Ich war schon mehrfach dort und habe Spieler wie Naldo oder Arne Friedrich als Jurymitglied und Besucher angetroffen. Die Filme, die dort gezeigt werden, sind immer großartig. Fußball ist eben nicht nur das Gekicke auf dem Platz, sondern eine Plattform, ein Abbild vom Leben. In diesem Jahr mussten die Organisatoren das Filmfest natürlich auch absagen. Für alle Interessierten gibt es die Möglichkeit, die Kurzfilme auf der "11mm"-Website anzusehen.
Tipps aus dem aktuellen „11mm“-Programm:
„Flemish Fields“ (23 Min.)
In dem Kurzfilm richtet sich der Blick immer auf die gegenüberliegende Seitenauslinie, ab und zu laufen ein paar Spieler durchs Bild. Die Kamera interessiert aber nur das, was jenseits der Seitenauslinie passiert. Ein Pferd kommt ins Bild und geht nach rechts weg oder ein Zuschauer bewegt sich am Rand und holt den Ball aus der Wiese hinter ihm.
„Länderspiel“ (2 Min.)
Der Film zeigt einen Autofahrer unterwegs, während im Radio die Livereportage zum Spiel Deutschland gegen Argentinien 2006 läuft. Mit überraschendem Ende.
„La Veu del Barça“ (4 Min.)
Eine Vier-Minuten-Homage an Manel Vich, den 2016 verstorbenen legendären Stadionsprecher des FC Barcelona.
Und wenn gar nichts mehr hilft, nehme ich den Ball hoch und bin wieder zehn Jahre alt.