Am Samstag war Viktoria Köln zu Gast im Eintracht-Stadion. Ein Spiel, zwei Perspektiven. Unsere Regionäre Malte Schumacher und Kay Rohn berichten.
Stadionfunk - Die Eintracht-Kolumne:
Geisterspiel!
Malte Schumacher
Geisterspiele!
Als sich die 3. Liga dann auch dazu entschlossen hatte, die Saison zu Ende zu bringen, war mir klar: Das wird hart. Also für mich. Um mich professionell auf dieses dann ja doch erwartbare Szenario vorzubereiten, hatte ich mich vor zwei Wochen am Re-Start-Bundesliga-Samstag vor die Kiste gesetzt und die Spieltags-Konferenz bei Sky gestartet. Dortmund gegen Schalke – Revierderby! Nach über zwei Monaten Liga-Pause – das muss doch der Hammer werden, endlich wieder Fußball und dann ein Derby…
Denkste. Nach zwanzig Minuten „Geister-Konferenz“ habe ich mich an den Schreibtisch gesetzt und was weggearbeitet. Das Geister-Gekicke war mir viel zu langweilig. Keine Stimmung, keine Atmosphäre – da springt nichts über bei mir, gar nichts.
Ab nach Schweinfurt
Ein guter Plan musste also her für den ersten Eintracht-Geister-Spieltag – ein richtig guter Plan, damit ich trotzdem Spaß habe dabei. Mit dem Fanclub zusammen anschauen? Geht nicht, Kontaktbeschränkungen. Hmmm, mal wieder wegfahren, mal wieder was erleben nach all‘ der Zeit daheim, das wär’s… Ich hab’s: Ich fahre mit dem Zug nach Grafenrheinfeld bei Schweinfurt zu Kerstin und Wolfram. Wolfram und ich haben uns lange nicht gesehen, da schaffen wir zusammen auch die Geister-Herausforderung.
Freitag also noch Mitbringsel besorgen: In der Münzstraße gibt’s beim „Atelier Jacobson“ wunderbare blau-gelbe Mundschutz-Masken. Und da ich gerade ein unterhaltsames und schmackhaftes online-Bier-Tasting mit Paul und Max von der National Jürgens Brauerei erlebt habe, kommt auch eine Auswahl von deren Stöffchen in den Koffer.
Spieltags-Vorbereitung mit Weltmeister Jorge Valdano
Als hätte die Sport-Redaktion der „Süddeutschen Zeitung“ Einblick in meine Gedankenwelt rund um Geisterspiele, schenken sie mir am Samstag zum Spieltags-Frühstück ein ganzseitiges Interview mit Jorge Valdano, 1986 zusammen mit Diego Armando Maradona Weltmeister, heute Fußball-Philosoph. Valdanos Meinung zu Geisterspielen: „Ohne Publikum zu spielen, hat einen sehr mächtigen Einfluss. In erster Linie, weil das dem Fußball die Seele raubt. Es ist ein anderer Sport.“ Meine Worte, meine Bedenken. Aber Valdano ist ein kluger Kopf – er liefert auch die Erklärung dafür, warum es den Blödsinn trotzdem gibt: „Ich halte diese Spiele für notwendig. Es ist eine Notsituation. Und außergewöhnliche Situationen verlangen nach außergewöhnlichen Lösungen.“ Mit Blick auf die wirtschaftliche Lage der Drittliga-Clubs ist da auch wieder was dran…
Trainer-Latein
82 Tage ist das 0:3 gegen Rostock nun schon her, erinnert mich Daniel Mau in der Braunschweiger Zeitung. Die Mannschaft sei enger zusammengerückt, sagt Trainer Marco Antwerpen. Und weiter führt er in der Pressekonfernz aus: „Wir wollen immer elf Akteure auf dem Platz haben, 18 Mann im Kader, die bereit sind, ein Spiel zu gewinnen. Wir werden versuchen, sofort mit Beginn hohes Tempo zu spielen, jeder Spieler sollte sofort Gas geben. Wir wollen mit Beginn Stimmung und einen aggressiven Spielstil auf den Platz bringen.“ – okay Trainer, aber sollte das nicht an jedem Spieltag so sein? Sei’s drum, genau das wollen wir sehen und spüren bis zum Saisonende, denn es wird ein echter „Neustart“ sein heute. Wir sind zwar nur auf Platz 9 – aber auch nur drei Punkte hinter Platz 2. Will sagen: Da geht allein rein rechnerisch noch so einiges…
Leon Bürger in der Startelf
Ein Heimsieg heute ist also Pflicht. Bei Volker und Inga wird in Waggum im Garten die blau-gelbe Fahne gehisst – erste Signale im Fanclub-WhatsApp-Kanal erreichen mich im ICE. Dieser rollt über Halle und Bamberg pünktlich zu 12.51 Uhr nach Schweinfurt ein. Wolfram holt mich dort ab, 15 Minuten später habe ich ein Bayreuther Helles in der Hand und wir gehen bei ihm daheim vor der Kiste die Aufstellung durch.
Wolfram ist siegessicher und bei mir setzt nun auch die übliche Spieltags-Nervosität ein… Kessel in der Innenverteidigung, neben ihm Goden auf der defensiven Außenbahn, Robin Becker gar nicht im Kader. Den Rest hatte ich so erwartet – nur Leon Bürger überrascht mich sehr. Da muss ich lange ausholen, um Wolfram das zu erklären, er hat Leon noch nie spielen sehen. Wir haben aber auch ausreichend Gelegenheit zum Plaudern, die Vorberichterstattung bei Magenta braucht kein Mensch.
„Ordinäre Fehler“
Sieht komisch aus, das leere Stadion. Ich mag da gar nicht hinkucken, ich mag mich gar nicht vertiefen in dieses Bild. Ich muss diese Geisterspiele jetzt einfach „wegarbeiten“ – mit genießen, erleben oder gar einem freudigen Ereignis hat das nichts zu tun. Anpfiff. Ton aus, Wolfram und ich plaudern – da fällt allerdings schon das 0:1.
Trotz der 82 Tage Pause geht der Senf also zunächst mal genauso weiter, wie er in Rostock aufgehört hat. Ich sinke in mein Polster zurück und trinke das Helle aus. Jorge Valdano kommt mir wieder in den Sinn, der zu den Auffälligkeiten der von ihm angeschauten Geisterspiele meinte: „Ich habe defensive Fehler gesehen, die in einigen Fällen ordinär waren. Ich bringe das mit dem fehlenden Publikum in Verbindung, weil das eher auf die Defensivsysteme ausstrahlt. Das Publikum stützt Dich vor allem in Fragen der Anstrengung und in Fragen der Konzentration.“
Braunschweiger und Kölner Hühnerhaufen
Von Aggressivität und Fokussierung war beim Gegentor nichts zu sehen bei uns, die gesamte Abwehr sah aus wie ein Hühnerhaufen. Die Eintracht aber spielt trotz dieses Rückschlags weiter Fußball und zum Glück hat der Trainer Leon Bürger aufgestellt, der in der 10. Minute den Ausgleich macht. Diesmal rutscht der Ball vorher einmal von rechts nach links durch den gesamten Kölner Strafraum – Valdano scheint recht zu haben: die Defensive leidet wohl am meisten unter der unwirklichen Stimmung… Gleich nach unserem Tor gibt’s einen akustischen Effekt vom Band: „Eintracht, Eintracht-Sprechchöre“. Na ja, netter Versuch. Ich beruhige mich nun erstmal und mache Wolfram die leckeren Brauspezialitäten der National Jürgens Brauerei schmackhaft.
Koby dreht das Spiel
Echte Fußball-Stimmung kommt bei uns beiden nicht auf, was aber auch daran liegt, dass dies kein hochklassiges Fuballspiel ist. Oder besser: Wenn wir Stadion-Atmosphäre, Gesänge und Pfiffe auf der Tonspur hätten, wäre das Gekicke sehr viel besser zu ertragen. Egal, wegarbeiten. Tatsächlich wirkt Eintracht nun immerhin zielstrebiger als die Viktoria, und nachdem der Ball in der 40. Minute von ganz links nach rechts einmal durch den Kölner Strafraum gelangt ist, macht Koby das 2:1 für uns und dreht das Spiel. Super durchgelassen von Pourié, unserem Stürmer mit der fragwürdigsten Friese des heutigen Tages. Puh, okay, damit kann ich leben. In der Zwischen-Tabelle sind wir nun schon Fünfter – läuft….
Wo sind die Leader-Typen?
Für die zweite Halbzeit wünsche ich mir einfach nur, dass wir die drei Punkte behalten. Anscheinend wünschen sich das auch alle 22 Spieler, denn auf dem Rasen passiert eher wenig. Bis nach einer Stunde der 35er von Viktoria aus über 30 Metern mal draufschwakt, und Jasmin in unserem Tor etwas blöd aussieht. 2:2, Ausgleich.
In der Wiederholung sehen wir, dass der Ball zunächst verdeckt wird von Burmeister und sich dann auch wegdreht von Fejzic – da kann er nichts machen. Auch hier aber bemerke ich bei unseren Jungs wenig von der versprochenen Aggressivität, vom bedingungslosen Siegeswillen. Dazu braucht es wohl gerade bei Geisterspielen „Leader-Typen“, meint auch Jorge Valdano: „Einige der älteren Spieler wie Thomas Müller bewahren noch immer eine Wettbewerbs-Wildheit, die ansteckend ist. Die Jungen scheinen sich zu sagen: Wenn schon der Alte rennt, sollten wir dann nicht auch laufen?“ Nehrig versucht das bei uns, auch Kessel scheißt seine Nebenleute mal zusammen – da geht aber noch mehr…!
Bärchen kommt und Bärchen trifft!
Und nun? Antwerpen nimmt Bürger raus und bringt Bär. Inga fragt über den Fanclub-WhatsApp-Kanal, was das denn soll – da hat das Bärchen schon getroffen. Seine erste Aktion, 3:2. Schöne Vorarbeit von Koby, alles prima. Nun wirkt es tatsächlich so, als würden wir heute gewinnen. In der 79. Minute spielt Biankadi einen butterweichen Flankenball in den Lauf von Marcel Bär, der nimmt ihn mit der Brust am 16er mit, der Ball tropft einmal auf und Bär ballert ihn links oben ins Tor. Micha schickt ein Bild vom Campingplatz in der Heide: Er hat dort einen weiteren Micha gefunden, und beide feiern unseren Siegtreffer. Bämm, das war’s.
Re-Start sportlich gelungen, wir sind nun tatsächlich Fünfter in der Tabelle, denn Waldhof hat verloren. Ich werfe via Magenta nach dem Abpfiff noch einen Blick in meinen leeren Block 6 – das tut weh.
Sieger dürfen feiern
Geisterspiele sind nicht meins, und das wird auch nichts mehr mit uns. Ich halte es da mit einem anderen großen Philosophen, mit Homer Simpson: „Laaaaaangweilig!“. Ich bin aber bereit, dieses Thema wegzuarbeiten. Mittwoch geht’s ja schon weiter, zum Auswärtsspiel nach Halle. Wenn wir das auch gewinnen, geht wieder so einiges… Wolfram, Kerstin und ich aber fahren jetzt erstmal nach Volkach, zum Weingut Franz Kirch. Der Zwetschgenbrand dort soll sehr gut sein, und die nächste Fanclub-Braunkohlwanderung kommt bestimmt. Sieger dürfen feiern, Sieger dürfen genießen – das ist auch bei Geisterspielen so…
Kay Rohn
Geisterschar im Stadion
Übernatürliche oder nicht gewohnte Phänomene nehmen Einzug in die Stadien. Die Rahmenbedingungen für die Restsaison sind gravierend andere. Aber ist das auch wettbewerbsverzerrend wie einige Drittligavereine sagen? Ist der Wolkenbruch im Süden von Deutschland auch wettbewerbsverzerrend während im Norden die Sonne scheint? Ist Corona ein natürlicher Einfluss? Es sind Rahmenbedingungen.
„Desillusionierung des Fußballs“
Im Podcast Fußball MML wird das Thema Geisterspiel natürlich auch von allen Seiten diskutiert. Lucas Vogelsang, einer der drei Podcaster, sagt, natürlich „wird es eine Desillusionierung des Fußballs geben. Spiele ohne Fans, mit Pappkameraden oder Tonkonserve im Hintergrund werden etwas ganz anderes sein. Entzaubert, ohne Fangesänge, Rituale und Choreos.“
Schon der Einlauf der Mannschaften ist ganz anders. Die Kölner klettern auf Höhe der Mittellinie die Treppen der Gegengerade herab und treffen erst am Mittelkreis, zum Gedächtnis an die Pandemieopfer, auf die Braunschweiger, die aus den Katakomben der Haupttribüne kommen. Die Mannschaftsaufstellung hallt durch den riesigen leeren Raum. Es klingt fast wie die erste Probe vor einem großen Open-Air-Konzert.
Ich bin Teil einer Delegation
Laut Hygienekonzept DFB/DFL dürfen sich maximal 300 Personen in den drei Zonen, Innenraum, Tribüne und Stadionaußenbereich aufhalten. Ich bin Teil der kleinen Eintracht Braunschweig-Delegation.
Wir sitzen mit fünf Plätzen Abstand auf der Tribüne, jeder verfolgt das Spiel für sich. Unser Klatschen hallt durch den leeren Tempel und klingt mühselig. Auf Abstand bedacht, unterhalte ich mich mit Einzelnen der Kölner Delegation. Für uns ist am nächsten Spieltag gegen Zwickau das wichtige Spiel, sagen sie. Da müssen wir punkten, hier nicht.
Verblüffende Aufstellung
Kader und Aufstellung sorgen aber zunächst einmal für Verblüffung. Erste Überraschung: Leon Bürger, lange nicht mehr gesehen, steht in der Anfangsformation. Zweite Überraschung: Robin Becker steht weder im Kader noch auf dem Feld. Überraschung Nr. 3: Stefan Fürstner ist weder in der Mannschaft noch im Kader. Dass Kevin Goden spielen sollte, war vorher ja schon im Gespräch.
Trainer Antwerpens taktische Aufstellung ist - gleich zum Gegner – eine 4-2-3-1 Formation. Leon Bürger wollte er als „Unterschiedsspieler“ mit reinnehmen. Ein Wort, dass es, wie „einnetzen“ oder „Spielgerät“, noch nicht lange im Fußballdeutsch gibt. Ein Spieler also, der den Unterschied machen soll zwischen zwei Mannschaften. Ich frage mich, welche Gründe Antwerpen für diese Aufstellung hatte. Ist es die Trainingsleistung, sein Wissen um das Kölner Team oder ist er einfach immer noch auf der Suche nach einer funktionierenden Mannschaft?
Ein munteres Spiel…
…so hätte es wohl in einer Reportage in den 70er Jahren geheißen. Ein munteres Spiel, auf Tor folgt Tor. Heißt aber auch, Chancen werden nachlässig ermöglicht. So geschehen beim 0:1. Niemand scheint für den heranstürmenden Wunderlich zuständig zu sein, der kann bis zum 16er durchlaufen und bringt die Viktoria in Führung. Dabei sah die ganze Abwehr sehr unorganisiert aus.
Mein persönlicher Eindruck ist, dass die Eintracht sich zwar zielstrebig zeigt, auf der rechten Seite allerdings nicht stark genug besetzt ist und immer wieder Lücken für gegnerische Angriffe lässt. Kijewski auf der linken Seite hingegen wirkt auf mich sehr präsent und souverän in seinen Aktionen. Bürger bringt Schwung, spielerische Stärke und vor allem Biss mit. Er ist auf jeden Fall ein Gewinn für die Mannschaft, die insgesamt ein gutes Spiel abgeliefert. Es gibt viele gute Torchancen und vier Tore sind eine gute Ausbeute! Mit Marcel Bär kommt in der 62. Minute ein Unterschiedsspieler für den anderen und macht zwei Minuten später gleich das wichtige 3:2, erhöht später sogar noch auf 4:2.
Mentaler Faktor Fan
Nur mit Geistern spielen reicht aber nicht! Weit über die Hälfte aller Spiele in den drei Profiligen wurden von den Auswärtsmannschaften nach dem Restart gewonnen oder zumindest gab es ein Unentschieden. Die Mentalität von Spielern und Trainerteam ist entscheidend. Dazu gehört eben auch die Stimme von den Rängen! Die Spieler bekommen ihr Feedback von den Fans, positiv oder negativ, und zwar ganz unmittelbar. Und diese Stimme fehlt zur Zeit. Obwohl: Ein paar Stimmen von Fans kamen auf der Videotafel zu Wort. In einer tollen Aktion von Eintracht konnten im Vorfeld des Spiels über Social Media Kanäle Fans persönliche Botschaften an ihre Mannschaft richten.