Ralf Sygusch, Verbandsdirektor des Regionalverbands Großraum Braunschweig, hat die Mobilität, insbesondere den ÖPNV der Region im Blick: Planen, Organisieren und Managen von regionalem Bus- und Bahnverkehr einschließlich der Anschlussmobilität ist eine der Hauptaufgaben des Verbandes. Sygusch hat konkrete Vorstellungen davon, wo die Reise in Sachen Mobilität hingehen soll. Und manchmal ist die Zukunft im öffentlichen Nahverkehr schon viel gegenwärtiger, als es der einzelne Fahrgast vermutet.
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„Das Machbare in den Fokus nehmen"
10 Fragen an Ralf Sygusch
Ralf, was kommt dir als erstes in den Kopf, wenn du über die Mobilität der Zukunft nachdenkst?
Die Mobilität der Zukunft sollte sich an den Bedürfnissen der Menschen ausrichten: Nicht die Technik ist das, was eigentlich die Mobilität der Zukunft bestimmen sollte, sondern das, was die Menschen benötigen und brauchen, um komfortabel, sicher und auf klimafreundliche Weise von A nach B zu gelangen.
Im Moment nehme ich die Diskussion in der Region um die Zukunft der Mobilität sehr technologie- und innovationsorientiert wahr. Ich sehe kurzfristig größere Chancen darin, vorhandene Mobilitätsangebote besser miteinander zu vernetzen und künftige Innovationen schrittweise dort zu integrieren. Es geht immer um die verfügbare Mobilität für den Einzelnen und sein jeweiliges, aktuelles Nutzungsbedürfnis.
Jetzt haben wir einen guten ganzheitlichen Einblick bekommen. Wenn wir jetzt auf den Schienenverkehr (SPNV) als Beispiel für ein Verkehrsmittel gehen, das ja eher langfristigere, auf die Zukunft ausgerichtete Planungen verlangt – wie steht es damit in der Region?
2022 haben wir beim Regionalverband in unserer SPNV Strategie 2030+ sowohl unsere Ziele für Angebot und Takt, für die Qualitäten an Halte- und Verknüpfungspunkten als auch an die Umstellung auf klimaneutrales Fahren als integrierten Gesamtansatz fixiert und setzen diese schrittweise um. Zwischen den drei großen Städten (Anm. der Red.: BS, WOB, SZ) sowie einigen Kreisstädten haben wir als Grundangebot jetzt einen Halbstundentakt, diesen streben wir langfristig auch zu allen Kreisstädten an.
Als wirtschaftlichste und nachhaltigste Lösung hin zum klimaneutralen Fahren verfolgen wir eine Vollelektrifizierung der Bahnstrecken. Als pragmatische und effiziente Zwischenlösung setzen wir auf hybride Lösungen mit batterieelektrischen Zügen, die über die Oberleitungen geladen werden, sodass wir damit Netzbereiche ohne Oberleitung überbrücken können. Mit dieser Lösung benötigen wir auch keine extra Ladeinfrastruktur.
Bei all unseren Visionen, Planungen und Projekten haben wir selten ein „Wissens- oder Erkenntnisproblem“. Ich habe sehr viel Fachexpertise im Haus oder bei unseren Planungs- und Umsetzungspartnern; limitierende Faktoren sind fast immer die verfügbaren Finanz-, Planungs- oder Bauressourcen oder auch die Lieferzeiten für Fahrzeuge und Technik.
Und gibt es so eine Strategie auch für den Busverkehr?
Im Busverkehr mit rund 1000 Bussen in der Region ist es weitaus komplizierter, da wir eine viel größere Anbieterdichte haben und teilweise auch unterschiedliche Bedienkonzepte verfolgen. Hier spielt die Digitalisierung eine immer wichtigere Rolle, um regionale und lokale Angebote untereinander und auch mit dem Bahnverkehr noch besser zu vernetzen.
Ein zunehmend interessanter Ansatz ist der Einsatz von unseren On-Demand Kleinbussen. Wir erschließen mit unserem bedarfsorientierten Mobilitätsangebot „flexo“ insbesondere ländliche Räume. Die Digitalisierung hilft uns, parallele Verkehre mit Linienbussen zu vermeiden und die Anschlüsse an Bahn oder Regionalbus zu gewährleisten. Das unterscheidet unser Angebot dann auch von klassischen Ridepooling-Angeboten.
Für dieses Angebot hat unsere Fahrzeugpoolgesellschaft beim Regionalverband40 barrierefreie Kleinbusse angeschafft, um diese den Verkehrsunternehmen zur Verfügung stellen zu können. Vorteil dieser Kleinbusse: Das Fahrpersonal braucht nur einen Personenbeförderungsschein – aber keinen Führerschein der Klasse D. Im Bezug auf den Fachkräftemangel ist das ein Vorteil.
Solche flexiblen Angebote auf dem Land könnten zum Gamechanger werden, denn die Akzeptanz für dieses Angebot ist da. Entscheidend wird hier die Frage der weiteren Finanzierung sein.
Gibt es Ansätze in Forschung und Entwicklung, von denen das Mobilitäts- und ÖPNV Angebot unmittelbar profitiert? Gibt es hier konkrete Projekte?
Wie bereits erwähnt, sind technologische Innovationen die eine Seite der Medaille, Bezahlbarkeit jedoch die andere. Ein Beispiel, in dem wir als Regionalverband mit der Forschung künftig noch enger zusammenarbeiten werden, ist die Modellierung und Simulation künftiger Mobilitätsangebote und deren Effekte auf Kosten oder auch das Klima – und das nicht nur im ÖPNV.
Wir haben in den letzten Jahren ein digitales, regionales Verkehrsmodell erstellt, an dem und mit dem auch Forschungseinrichtungen, wie die TU Braunschweig, arbeiten werden. Hier erhoffen wir uns Erkenntnisse für die Mobilität von Morgen und gleichzeitig kann die Forschung und Lehre an realen, praxisnahen Modellen arbeiten.
Und längerfristige Forschungsprojekte?
Wir sprechen natürlich oft mit der Wissenschaft, beispielsweise mit dem DLR (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt), den Hochschulen, dem NFF (Niedersächsisches Forschungszentrum Fahrzeugtechnik) oder auch der PTB (Physikalisch-Technische Bundesanstalt). Uns geht es weniger um Forschung an Zukunftstechnologien, sondern vielmehr um die Phase der Überführung in die praktische Umsetzung. Also um Kooperationen, wenn die Lösungen möglichst im Echtbetrieb auf die Straße oder auf die Schiene gebracht werden sollen.
Die Zusammenarbeit oder Partnerschaften orientieren sich daran, letztlich dauerhaften Mehrwert für die Menschen in der Region zu schaffen.
Natürlich sind wir auch interessiert an Themen wie autonomem Fahren, allein schon wegen des bestehenden Fahrermangels. Wir als Regionalverband sind hier in konkreten Gesprächen, wobei wir neben der technischen Machbarkeit auch stark auf die Gesamtkosten des Betriebs schauen wollen, denn diese sollten sich in einem ähnlichen Kostenrahmen wie mit realem Fahrpersonal bewegen.
Klimaneutralität ist auch ein großes Thema. Was gibt es hier für konkrete Ansätze?
Ähnlich der Automobilwirtschaft haben wir bzw. die Verkehrsunternehmen auch im ÖPNV mit der Clean Vehicles Directive - eine EU-Richtlinie - klare Vorgaben zur Umstellung auf klimaneutrale Antriebe der Fuhrparks auf Schiene und Straße. E-Mobilität ist aktuell das Mittel der Wahl. Entsprechend sind die Verkehrsunternehmen gefordert, schrittweise neue Fahrzeuge anzuschaffen, ihre Betriebshöfe anzupassen und sich über den Ausbau der Ladeinfrastruktur Gedanken zu machen. Eine hundertprozentige Klimaneutralität ist aber durch die langen Austauschzyklen der Fahrzeuge ein mittel-bis langfristiges Ziel.
Deshalb suchen wir nach kurzfristigen, wirksamen Übergangslösungen. Beispielsweise ein von uns unterstütztes Projekt der DB und deren Bustochter RBB ist der Einsatz von Hybrid Vegetable Oil (HVO) im Raum Baddeckenstedt – bisher einmalig in Niedersachsen.
HVO ist ein Biokraftstoff aus biologischen Abfällen, also altem Frittenfett, wie ich immer sage. Wohlgemerkt ohne Palmöl (lacht). Und das Beste daran ist, dass eben dieser Kraftstoff in normalen Dieselbussen bei minimalen Umbauarbeiten gefahren werden kann. Und man kann die bestehende Tankstelleninfrastruktur nutzen. Und schon haben wir im Bereich Klimaneutralität zwar keine 100-Prozent-Quote erfüllt, aber zumindest eine 80- bis 90 prozentige und dies mit recht wenig Aufwand.
Wir sind ja in das Interview eingestiegen, dass sich die Mobilität an den Bedürfnissen der Menschen orientieren soll. Welchen Komfort erleben die Fahrgäste durch die Digitalisierung?
Digitalisierung kann Komfort ermöglichen. Mit unserem Echtzeitprojekt generieren wir Daten, die nicht nur für die Verknüpfung des ÖV-Angebotes genutzt werden können. Eines unserer Ziele ist, möglichst viele Angebote auf mindestens einer regionalen, besser noch landesweiten Mobilitätsplattform verfügbar zu machen: Auf ihr werden Echtzeitdaten kombiniert mit Routenplanern, Informationen zur Ausstattung von Haltestellen und mit weiteren Mobilitätsangeboten wie beispielsweise E-Roller oder Sharing-Angeboten zusammengeführt. Daraus ergibt sich eine optimale Empfehlung für jeden individuellen Weg mit größtmöglicher Flexibilität. Wichtig ist mir, dass hier ein offenes oder anbieterunabhängiges Angebot entsteht, um Nutzern möglichst viele Wahlmöglichkeiten zu bieten.
Ein digitales Komfortthema haben wir aktuell auf den Weg gebracht: Mit FAIRTIQ hat der Verkehrsverbund (VRB) in der Region jetzt ein Check in – Be out Angebot eingeführt. Einsteigen, die FAIRTIQ App auf Start swipen, an beliebiger Haltestelle aussteigen und bei Ausstieg erkennt die App das Ende der Fahrt oder auch eventuelle Umstiege. Ohne weiteres Zutun errechnet FAIRTIQ anschließend den passenden und günstigsten Tarif und deckelt ihn beim Tagespreis – egal durch wie viele Zonen man gefahren oder wie oft man umgestiegen ist. Klingt einfach – ist es auch (lacht)
Da komme ich gleich zu der Rolle, die das Fahrrad gedanklich in diesem ganzen Mobilitätsmix für dich spielt…
Das Fahrrad spielt für unsere Planungen beim Regionalverband eine sehr große Rolle, da wir insgesamt in Wegeketten denken und planen. Das heißt, der Bürger oder Besucher der Region soll sich so fortbewegen können, wie es gerade zu seinem Bedarf passt. Dazu gehört auch ein gutes Radwegenetz, sichere Park- und Abschließmöglichkeiten zum Beispiel an Bahnhöfen oder auch Mitnahmeoptionen in Zügen. Das Fahrrad spielt in meinem eigenen Mobilitätsverhalten eine große Rolle – manchmal nur als Zubringer zum Bahnhof. Aber die Bewegung und frische Luft bis dahin sind mir als Schreibtischmensch besonders wichtig. Und falls ich mal mit dem Auto in den Verband gekommen bin, schwinge ich mich gern auch mal für Termine auf unser Dienstfahrrad.
Jetzt haben wir noch gar nicht über das Thema Deutschlandticket gesprochen. Wie siehst du die Zukunft dieser Erfolgsgeschichte?
Das Deutschlandticket ist eine echte Chance und auch eine Revolution für den ÖPNV und das bisherige Tarifsystem, das muss man einfach so sagen. Zunehmend werden bestehende Abos in ein D-Ticket überführt oder mit ihm verknüpft, wie beispielsweise das Jobticket oder künftig das Semesterticket. ABER: nur solange Bund und Länder, als Besteller des Tickets, auch für die bei den Verkehrsunternehmen ausgelösten Einnahmeverluste dauerhaft geradestehen und diese ausgleichen. Wenn die Voraussetzung erfüllt ist und dazu noch Mittel für den Ausbau der Angebote bereitstehen, hat das Ticket eine echte Zukunft, auch wenn es vielleicht ein paar Euros teurer werden sollte.
Und was wünscht du dir für die Zukunft der Mobilität und des ÖPNV in der Region?
Ich wünsche mir für die Mobilität der Region, dass wir neben Visionen und Ideen noch mehr das gemeinsam Machbare in den Fokus nehmen.
Für den ÖPNV wünsche ich mir manchmal mehr Akzeptanz und vielleicht auch Verständnis dafür, dass bei einem komplexen, ineinander verzahnten System aus 170 Zügen und 1000 Bussen in unserer Region nicht immer alles reibungslos funktioniert. Ich wünsche mir auch, dass viele, die über den ÖPNV reden, ihn auch einmal nutzen würden. Jeder sollte ruhig mal versuchen, den ÖPNV in den einen oder anderen Weg einzubinden.
Insgesamt glaube ich, dass die Zukunft der Mobilität in dem von mir beschriebenen Sinn unter einem guten Stern steht.