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„Grenzgänger“:
Wie Hans Bertram zum Bundesverdienstkreuz kam

Träger des Bundesverdienstkreuzes, Pilot, Agrarökonom und Zeitzeuge: Hans Bertram aus Wolfsburg ist all dies, noch viel mehr – und immer auf Achse. So habe ich Glück, dass wir einen Termin gefunden haben, um über sein bewegtes Leben zu sprechen.

Hans Bertram ist kein gebürtiger Wolfsburger. Aber er ist hier tief verwurzelt und hat sich ganz bewusst für ein Leben in der Region entschieden. 1932 als Sohn eines Großbauern in Ostingersleben geboren, hat er als Kind den Krieg erlebt und als Jugendlicher die Teilung Deutschlands.

Nach zwei Jahren Ausbildung auf dem elterlichen Hof und einem Jahr Lehre im Fremdbetrieb im Nachbarort wollte Hans Bertram in Haldensleben die Fachschule besuchen. Doch als Sohn eines Großbauern wurde ihm die Schule im Osten verwehrt und so wanderte der Junge, wie so viele Tausende, jeden Morgen über die damalige „grüne Grenze“ nach Helmstedt, um 12 Kilometer von seinem Heimatdorf entfernt zur agrarwissenschaftlichen Schule zu gehen.

„1952 wurden im Osten die ersten Vorbereitungen zur Zwangskollektivierung der landwirtschaftlichen Betriebe getroffen, die 1953 dann durchgeführt wurde“, erinnert sich der Zeitzeuge. „Und 1953 war es auch, als mich die sogenannte Kasernierte Volkspolizei in ihren schwarzen Uniformen vom Feld weg verhaftete und nach Haldensleben mitnahm“, wo er drei ganze Tage und Nächte durchgängig verhört wurde. Die Vorwürfe, dass er „gegen die Kräfte des Sozialismus geschult worden sei“, konnte sein Vater schließlich entkräften.

 

Flucht in den Westen

Nach seiner Entlassung bei der Polizei wurde Hans Bertram angewiesen, sich sofort bei der Kasernierten Volkspolizei (der Vorläufer der Stasi) zu melden, er sollte aber über das Erlebte schweigen – Grund genug für ihn, möglichst schnell zu verschwinden. Und so flüchtete der junge Landwirt nach West-Berlin, seine Eltern folgten. Niedersachsen, Schleswig-Holstein und der ganze Norden hatten ihre Kontingente an Flüchtlingsaufnahmen bereits erfüllt, sodass die Familie zunächst in einem kleinen Dorf in der Eifel unterkam.

„Untergebracht wurden wir in einem baufälligen Saal, ausgestattet mit Eisendoppelbetten und strohgefüllten Matratzen. Nicht sehr komfortabel“, erzählt Bertram. Jahrelang habe er unter schwerem Heimweh gelitten. „Ich war dort nicht verwurzelt, mich zog es zurück zu meiner Scholle, in die Nähe meiner Heimat“, betont er. „So bin ich dann in Lauingen bei Königslutter gelandet.“ Dort arbeitete er drei Jahre lang in einem Landwirtschaftsbetrieb. Viele der Junglandwirte der Gegend kannte er ja noch aus seiner Schulzeit und er fühlte sich hier sofort wieder heimisch.

 

Landwirtschaft unter schwierigen Verhältnissen

Im Jahr 1958 pachtete der Agrarwirtschaftler einen Hof in Kästorf (Wolfsburg). Mit seinem Vater hat er den ersten eigenen Betrieb „aus dem Nichts“ aufgebaut – anfangs eine schwere Aufgabe: „Wir haben die erste Ernte bereits verpfändet, bevor sie eingefahren wurde, um das Saatgut fürs nächste Jahr zu bekommen“, erzählt er.

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Doch schließlich stellte sich der Erfolg ein und die Stadt Wolfsburg bot ihm zusätzlich einen größeren Betrieb an: den Margaretenhof in Reislingen. Und so kam nach der Gebietsreform noch ein zweiter Betriebszweig, ein Landschaftspflegebetrieb, hinzu – „ein großer Sprung“, so Bertram.

 

Die „Erdbeere“

Anfang der 1980er-Jahre hatte der Landwirt eine zündende Idee: eine Erdbeerplantage zum Selberpflücken. Die erste legte er am Ortsrand von Kästorf bei Wolfsburg an der B 188 an. „Die Erdbeeren waren noch nicht mal reif, da haben mir die Leute das Feld abgeerntet“, berichtet er. Jedes Jahr sollte ein neues Feld dazukommen, nahm er sich vor und eröffnete weitere Erdbeerplantagen in Fallersleben, Vorsfelde, Reislingen, Königslutter und Helmstedt.

Nach der Grenzöffnung nahm er die alte Heimat in Angriff: „Ich bot der LPG die Pacht in West-Geld – das zog!“ Und so kam er am 27. März 1990 sogar zu einer Schlagzeile in der „Bild“: „Magdeburg – West-Bauer baut Erdbeeren an“, denn die Selbstpflückfelder waren eine Sensation in der ehemaligen DDR. Von den damals ausgeteilten Passierscheinen machte Bertram regen Gebrauch und reiste zwischen Ost und West ständig hin und her – eben ein echter Grenzgänger …

Während der Erdbeersaison beschäftigte der Bertram-Betrieb bis zu 70 Leute inklusive der Pflücker. Die Felder liefen so gut, dass der Landwirt nach 14 Jahren die Bewirtschaftung des Margaretenhofs aufgab.

 

Leidenschaft in der Luft

An seinem 60. Geburtstag gab er auch die Erdbeerplantagen ab. „Warum?“, möchte ich wissen. „Ich wollte einfach mehr Zeit für meine Leidenschaft haben – das Fliegen“, antwortet Hans Bertram. Schon als kleines Kind sei er von Flugzeugen jeglicher Art fasziniert gewesen. Mit 40 hat er seine Pilotenlizenz gemacht – neben der Hofbewirtschaftung.

Er kann von Ultraleicht über die ECO-Lizenz sogar Kunstflug fliegen und hat jetzt, im Ruhestand, auch genug Zeit dafür. Ich bin beeindruckt von so viel Tatkraft, denn noch immer zieht es Hans Bertram mit seinem Doppeldecker in die Luft! Mit der Boeing Stearman aus dem Jahr 1942, die er damals in Schweden aufgestöbert hat und zehn Jahre in Deutschland flog, erfüllte er sich einen Kindheitstraum. Seine Flugkameraden aus dem Aeroclub Braunschweig haben ihm ein Modell dieses Doppeldeckers als Erinnerung dieses Jahr zum 84. Geburtstag geschenkt.

In der Luft ist Hans Bertram übrigens nur unter seinem Spitznamen bekannt: „Sobald ich nach dem Start auf die private Frequenz im Funk schalte, geht es los mit ‚hier Erdbeere – bitte melden‘ und dann weiß man, dass ich in der Luft bin“, erzählt er. Das Erdbeer-Logo prangt auch stolz auf seinem Flugzeug. Selbst seine Rechnungen begleicht er unter dem Namen „Erdbeere“, wenn er beispielsweise auf den Flugplätzen speist.

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Wer so viel fliegt, der bekommt auch viel zu sehen. Und das Gesehene hält der Pilot auch gerne in zahlreichen Luftaufnahmen fest. Weit über 8.000 hat er inzwischen angefertigt und dabei unsere Region sehr genau dokumentiert. Die Bilder erscheinen zuweilen in der Zeitung, sie sind in Ausstellungen zu bewundern und in den Büchern, die Hans Bertram verfasst hat.

 

Immer in Bewegung

Aber nicht nur in der Luft ist der aktive Mann unterwegs. In der Garage steht – liebevoll gepflegt – eine BMW R50 aus den 1970ern, ein Oldtimer-Schmuckstück. Aber wer jetzt denkt, dass sie nur zum Anschauen ist, der hat weit gefehlt. Hans Bertram erzählt mir, während er den satten Sound der Maschine erklingen lässt, dass er mit zwei weiteren älteren Herren immer noch gemütlich durch den Drömling damit fährt. „Klingt doch wie Musik“, meint er verschmitzt, während er am Gas spielt. Bei mir als Motorrad-Fan ist er damit natürlich an der richtigen Adresse.

Auch mit dem Flugzeug ist er weiter gerne auf Achse, so auch dieses Jahr, wo er mit vier weiteren Doppeldecker-Piloten bis Frankreich an die Atlantikküste geflogen ist. „Um 10:30 Uhr sind wir mit unseren fünf Doppeldeckern gestartet, hatten Ostwind und sind noch im Hellen gelandet“, beschreibt er den diesjährigen Trip. „Und natürlich gehe ich mit ins Zelt – Doppeldecker-Piloten gehen nicht ins Hotel“, ist der jung gebliebene 84-Jährige überzeugt!

So lange es die Gesundheit zulässt, will er weiter die Lüfte erobern und neue Grenzen überfliegen. Polen, Marokko, Frankreich, Russland, Spanien, Tschechien – alles bereits angeflogen. Ein ganz besonderes Erlebnis war sein 80. Geburtstag, an dem er in Jalta gelandet ist. Im dortigen Museum, das die Jalta-Konferenz von 1945 zeigt, ist das Berühren der Gegenstände eigentlich strengstens verboten. Für Hans Bertram wurde jedoch an diesem besonderen Tag eine Ausnahme gemacht: Das Mitglied des Kuratoriums „Unteilbares Deutschland“ durfte sich für ein Foto an den Tisch stellen, an dem bereits Churchill, Roosevelt und Stalin auf der Krim die Aufteilung Deutschlands beschlossen.

 

Ausgezeichnet

Geschichte ist für Hans Bertram ein wichtiges Thema. Er sorgt mit seinen Erinnerungen und Fotos dafür, dass nicht vergessen wird, was noch in jüngster Vergangenheit geschah. Sein ehrenamtliches Engagement geht weit über das hinaus, was man von einem Mann seines Alters sonst erwarten würde. Seinen Ruhestand nutzt er, um unermüdlich seinen Leidenschaften nachzugehen und sein Wissen in die Welt zu tragen – unzählige blaue Ordner in seinem Haus in Reislingen erzählen seine Geschichten. Überall ist der Hauch der Historie zu spüren.

Und für seine vielen ehrenamtlichen Verdienste zum Wohle der Öffentlichkeit, unter anderem für seine Aktivitäten zur Wendezeit, seine Hilfe beim „Aufbau Ost“ und die Mitarbeit im „Kuratorium Unteilbares Deutschland“, wurde ihm am 28. November 2006 das Verdienstkreuz am Bande im Namen des Bundespräsidenten verliehen. Es hätte schon vor zehn Jahren ein krönender Abschluss seiner langen Karriere voller Engagement sein können – aber ich bin sicher, dass wir noch viel mehr von Hans Bertram sehen und hören werden, sei es in Form von weiteren Ausstellungen (die nächste ist bereits in Vorbereitung) oder in der Schilderung seiner spannenden Erlebnisse. Die nächsten Grenzen warten bestimmt.