Header image Inga Stang

Ein Tag in Wolfsburg
– Dolce Vita in der italienischsten Stadt nördlich der Alpen

Es ist stürmisch und grau. Der Himmel ist dunkel, obwohl die Zeiger erst auf 14 Uhr stehen. Und hier soll ich das italienische Lebensgefühl finden? Ich bin in Wolfsburg, der Stadt, die laut vielfältigen Quellen als italienischste Stadt nördlich der Alpen gilt. Seit den Fünfzigerjahren kamen Tausende Gastarbeiter in die Stadt, um ihr Glück bei Volkswagen zu finden. Viele von ihnen sind geblieben und haben die Stadt und ihr Lebensgefühl stark mitgeprägt.

Ich will mich auf die Suche nach der Wolfsburger Dolce Vita machen und habe mir bereits vorab einige Tipps von der 25-jährigen Dora Balistreri geholt. Dora ist erst mit 14 Jahren in die Stadt gekommen, was sie von ihren Altersgenossen mit italienischen Wurzeln in Wolfsburg unterscheidet. „Die typische Wolfsburger Familiengeschichte beginnt mit dem Großvater, der als Gastarbeiter kam. Dessen Kinder gingen als zweite Generation in Wolfsburg zur Schule.  Deren Kinder wiederum sind in Wolfsburg geboren und hier beheimatet“, erzählt sie mir am Telefon. Dora hingegen kam mit ihren Eltern nach Wolfsburg. Mutter und Vater hatten Lehraufträge in der Region, unter anderem an der Leonardo-da-Vinci-Gesamtschule, einer integrierten Gesamtschule mit deutsch-italienischem Zweig in der Nordstadt Wolfsburgs. Doras Tipps fokussieren sich fast alle auf den Platz, dessen Name bereits italienische Sonne versprüht: die Piazza Italia.

 

Ein Platz für italienische Händler

Rund um die Piazza Italia waren bis vor ein paar Jahren diverse kleine italienische Läden angesiedelt. Heute sind es nur noch vier Geschäftsinhaber und die italienische Konsularagentur, die dem Platz seinen italienischen Namen verleihen.

Einer dieser Läden ist der Friseur „Massimo – uomo e donna“. Um mich auch optisch an das italienische Lebensgefühl anzupassen, beginnt meine Reise genau hier. Ziel: voluminöse Locken wie eine Bella Donna. Inhaber Massimo Pisu lebt seit 1970 in Wolfsburg. Sein Vater kam als Gastarbeiter samt Frau und Kind aus Sardinien nach Wolfsburg. „Damals kamen sehr viele Italiener nach Wolfsburg, die alle in Baracken unter der Berliner Brücke untergekommen sind. Heute steht dort das Stadion.“ Eine Bildergalerie auf einer Wand neben dem Wakepark am Volkswagenstadion zeigt heute Bilder des alten „Italienerdorfes“ aus den Sechzigern.

 

Italienischer Unternehmergeist bereichert Wolfsburg

„Nach dem Bau der großen Wohnhäuser in Kästorf zogen die meiste Familien dorthin. Dadurch wurde Kästorf zu so etwas wie dem italienischen Zentrum Wolfsburgs,“ erinnert sich Massimo Pisu. Heute sind die italienischen Familien Wolfsburgs über die ganze Stadt verteilt. Viele Italiener der zweiten Generation haben sich wie Massimo selbstständig gemacht und bereichern die Stadt durch ihren Unternehmergeist. „Nicht nur die klassische Pizzeria, sondern auch IT-Unternehmen und viele Handwerker sind italienischen Ursprungs. Sogar in der Politik findet man diverse Italiener“, erzählt mir der 49-Jährige, während seine Mitarbeiterin Emanuela Maganuco mir die Haare mit Rundbürsten und Fingerspitzengefühl lockig föhnt.

Die 22-jährige Emanuela wurde wie viele junge Italiener in Wolfsburg geboren und spürt keine große Verbindung zum Herkunftsland ihrer Großeltern. Ähnlich geht es Massimos 26-jähriger Tochter Alisa Pisu, die sich im Stuhl neben mir die Haare von ihrem Vater schneiden lässt. „Ich fühle mich in Wolfsburg zu Hause. Italien ist schön und ich fahre dort auch gerne im Urlaub hin, aber Deutschland ist meine Heimat.“

 

Die dritte Generation spricht eine eigene Sprache

Dora hatte mir bereits erzählt, dass die Wolfsburger Italiener der dritten Generation weniger Bezug zum Land ihrer Wurzeln haben: „Die Verbindung ist da einfach nicht mehr so intensiv, wie sie es vielleicht bei ihren Eltern noch gewesen ist. Dafür haben sie eine andere, neue Kultur gebildet, was sich vor allem in der Sprache bemerkbar macht.“ So sprechen laut Dora viele Italiener der zweiten und dritten Generation einen Mix aus Italienisch und Deutsch mit ganz eigenen Wortschöpfungen. So wird zum Beispiel aus „Anmeldung“ „Anmeldare“ erzählt sie mir. Neben diesen Eigenkreationen hört man bei einem Spaziergang durch Wolfsburgs Innenstadt weitere italienische Akzente aus Apulien, Kalabrien oder auch Sardinien. Spätestens hier wird deutlich, dass Wolfsburg italienischer ist, als es auf den ersten Blick erscheint.

Frisch gestylt geht es nach meinem Besuch bei Massimo weiter zum gegenüberliegenden Bistro Nando. Leider wird gerade für eine Feier umgebaut, weshalb ich hier auf den Kaffee verzichten muss. Inhaber Fernando Constantini hätte mir sicherlich viele Geschichten über die italienische Seite Wolfsburgs erzählen können. Auch er kam mit seinen Eltern und seinen fünf Geschwistern als Kind nach Wolfsburg und hat sich vor 16 Jahren selbstständig gemacht. Jeder in der Stadt kennt ihn unter dem Namen Nando, wie sein Bistro.

So ziehe ich weiter über die Piazza Italia. „Die beste Pizza der Stadt gibt es in der Trattoria Incontri“, hat mir Dora vor meinem Besuch in Wolfsburg erzählt. Den Test kann ich leider nicht machen, denn ich habe noch keinen Hunger. Außerdem liegen mit dem „Vini d´Italia“ und dem Restaurant „La Fontana“ noch zwei weitere italienisch-kulinarische Highlights vor mir.

Italienische Kultur in Wolfsburger Gewand

Das „Vini d´Italia“ bietet italienische Spezialitäten, und wie der Name bereits verrät, Wein an. Das Unternehmen hält mittlerweile drei Ladengeschäfte. Das erste Geschäft wurde hier an der Piazza Italia eröffnet und verfügt zusätzlich über ein kleines sizilianisches Restaurant in der oberen Etage. Herzlich werde ich von Inhaberin Eleonora Marrone begrüßt. Vor 23 Jahren haben sie und ihr Mann das Geschäft eröffnet. „Wir waren damit die ersten Italiener hier am Platz“, erzählt sie mir bei einem Gläschen Wein. Seit ihr Mann vor drei Jahren gestorben ist, helfen ihre zwei Töchter, die Geschäfte und das Restaurant am Laufen zu halten.

„Familie ist uns Italienern sehr wichtig und ich bin glücklich und stolz, dass meine Kinder mich so unterstützen.“ Die gesamte Familie von Eleonora, die ebenfalls mit den Eltern nach Wolfsburg gekommen ist, versucht sich regelmäßig zu treffen und Traditionen am Leben zu erhalten. „Die junge Generation ist mit dem deutschen Leben, deutsch zu kochen, deutsch zu sprechen groß geworden. Da geht viel Kultur verloren. Wenn man da nicht als Eltern dranbleibt und versucht, die Kontakte in die Heimat zu halten, die Traditionen, die Sprache und das Essen zu pflegen, verlieren die Kinder den Bezug zu ihren Wurzeln.“

Wer wirklich daran interessiert ist, italienische Kultur zu erleben, dem bietet Wolfsburg jedoch eine Menge Möglichkeiten. Die italienische Konsularagentur, zehn Schritte vom „Vini d´Italia“ entfernt, organisiert regelmäßig Ausstellungen und Konzerte mit italienischen Künstlern. Auch der Kunstverein CreARTE e. V. bietet einen Schauraum, in dem unter anderem italienische Künstler ihre Werke ausstellen. Zusätzlich gibt es unzählige italienische Vereine, die jeweils nach der Herkunftsregion ihrer Mitglieder benannt sind. „Es gibt auch eine ganz tolle italienische Folklore-Gruppe in Wolfsburg, die Konzerte und italienisch geprägte Feste veranstaltet,“ erzählt mir Eleonora Marrone. Auch der Wolfsburger Deutsch-Italienische-Freundeskreis e. V. engagiert sich kulturell und fördert die Leonardo-da-Vinci-Gesamtschule sowie weitere Bildungsangebote.

 

Italienische Gefühle am Wasser

Doch wo treibt es die italienische Community hin, wenn die Familie mal keine Zeit hat und der Kulturkalender leer ist? „Bei schönem Wetter gehe ich an den Allersee oder in die Autostadt. Das Ambiente mit dem Wasser überall gibt mir ein bisschen von dem Flair des Dolce Vita, das mir sonst hier im Alltag schon fehlt“, verrät mir Eleonora. Massimo Pisu hingegen geht italienisch essen und Dora zieht es in ein Café auf dem Bahnhofsvorplatz, wo sie das Einwanderer-Denkmal „L’Emigrante“ von Quinto Provenziani an die Geschichte der Wolfsburger Gastarbeiter erinnert.

Bei Spielen der italienischen Nationalmannschaft wird hingegen ganz Wolfsburg zu Little Italy, bestätigen mir alle meine Gesprächspartner. „Die Straßen sind dann voller Flaggen und auf der Porschestraße wird ausgiebig gefeiert“, erzählt mir Alisa Pisu. Fußball ist für die hiesigen Italiener ein so großes Thema, dass sie sogar 1962 mit dem U.S.I. Lupo Martini den ersten italienischen Fußballverein Deutschlands in Wolfsburg gegründet haben. Heute ist der Verein international geprägt, in seiner ursprünglichen Form waren es jedoch fast ausschließlich Italiener, die sich erfolgreich in der deutschen Fußballlandschaft behaupten konnten.

Ich genehmige mir noch ein paar unverschämt leckere Monfortini, kleine Schokoladentrüffel aus dem Piemont, bevor ich das „Vini d´Italia“ verlasse und mich zur letzten Station meiner Reise begebe. Das „La Fontana“ gegenüber des Wolfsburger Rathauses wurde mir schon mehrmals als einer der Hotspots für gute Pizza und Pasta genannt. Ich entscheide mich für die schnelle Variante und nehme ein Stück Pizza auf die Hand, das ich durch das Fenster des Straßenverkaufs gereicht bekomme. Der perfekte Abschluss meines kleinen Ausflugs in die italienischste Stadt nördlich der Alpen.