Hoch in den Himmel ragen die Abbruchkanten. Meike Buck

Verwunschener Ort
Der alte Steinbruch bei Destedt

Mit Marco Failla, dem Kreisheimatpfleger des Landkreises Wolfenbüttel, bin ich unterwegs in den verlassenen Destedter Steinbruch. Schon vor vielen Jahrhunderten wurde im Elm Kalkstein abgebaut, seit 1949 gab es hier das Elmkalk- und Zementwerk. Ein abenteuerlicher Spaziergang mit spannenden Einblicken in die Geschichte.

Ein Betonplattenweg führt das Destedter Tal hinauf. Sanft steigt er an, führt uns an Feldern vorbei und durch die ersten Ausläufer des Elm-Waldes, der vor rund 240 Millionen Jahren entstand. Damals schwappten hier die Wellen eines Meeres an den Strand. Algen, Muscheln und andere Sedimente sanken zu Boden und verfestigten sich zu Kalkstein. Im Laufe von mehreren hundert Millionen Jahren schob sich der Stein zu einem Gebirge zusammen. Der Elmkalkstein wurde ein begehrtes Baumaterial, zu erkennen ist er an dem warmen, gelblichen Farbton der Steine. Viele Gebäude in der Region sind daraus errichtet, wie der Kaiserdom in Königslutter. „Sogar zum Bau des Bremer Roland wurden die Steine über Oker, Aller und Weser bis in die Hansestadt verschifft“, berichtet Marco Failla.

Begehrte Steine und schwere Arbeit

Der Abzweig nach rechts in den Steinbruch ist nur schwer zu erkennen. Die Reste eines Zaunes mit Tor zeigen schließlich, dass wir richtig sind. Die ersten großen Steinbrüche im Mittelalter lagen oberhalb von Königslutter, 1785 gibt es einen ersten Hinweis auf einen Steinbruch bei Destedt. „Heute ist er aber kaum noch zu erkennen“, erklärt Failla, „im 19. Jahrhundert wurde er aufgegeben. Anfang des 20. Jahrhunderts baute man dann in Hemkenrode den begehrten Stein ab und verarbeitete ihn vor Ort im „Braunschweigischen Elmkalk- und Steinwerk“. Der Arbeitskräftemangel führte allerdings 1941 zur Schließung auch dieses Steinbruchs. „Heute steht er aufgrund eines artenreichen Halbtrockenrasens mit mehreren Orchideenarten unter Naturschutz“, ergänzt mein Begleiter.  

Zunächst noch sanft, später steiler führt ein schmaler Trampelpfad in den Steinbruch hinab. Wir müssen uns unter Bäumen hinwegducken und über Wurzeln steigen. Achtung, ein Ast liegt quer über dem Weg! Auf der Erde wächst weiches Moos, die jungen Birken erinnern mich an die hellen Auwälder in Skandinavien. Die Natur erobert sich zurück, was der Mensch ihr einst abgerungen hat.

Abenteuerlich ist der Steinbruch Destedt. Meike Buck
Der Steinbruch Destedt ist heute ein wild-abenteuerlicher Ort.

Das Meer im Elm

Nach einigem Laufen, Kriechen und Kraxeln stehen wir vor einer Abbruchkante des Steinbruchs. Imposant erhebt sich die Wand in den spätsommerlich blauen Himmel. Unten liegen viele kleinere Steine und Gesteinsbrocken herum. Failla nimmt einen in die Hand und zeigt ihn mir. Ich erkenne deutlich kleine Muscheln darauf. Auf einem anderen sind feine Linien zu sehen. Wir werden zu Schatzsuchern, drehen den nächsten Stein um, und noch einen. Gibt es darauf noch etwas anderes zu sehen? Was verbirgt sich auf dem dort hinten? Es ist ein Blick in die Erdgeschichte, viele Millionen Jahre zurück. Schwer vorstellbar, dass hier einmal Wasser war, und noch schwerer, dass hier vor nicht einmal 50 Jahren die LKWs rollten und den Kalkstein abtransportierten. Bis zu 100 Arbeiter waren hier im Steinbruch beschäftigt – als Fahrer und im Kalkwerk. Heute ist es ein verwunschener Ort voller Magie, die Sonne leuchtet durch das Blätterdach und das Laub raschelt leise im Wind. Das weiche Moos federt unter unseren Füßen, einige Vögel singen ihr Lied in den Nachmittagshimmel.

Ich fühle mich an meine Kindheit erinnert, als in direkter Nähe zu meinem Elternhaus ein Steinbruch lag. Wie oft sind wir dort hingelaufen, es war ein Abenteuer, immer umweht mit einem Hauch von Verbotenem. Denn unsere Eltern sahen es natürlich nicht gerne, dass wir dort unterwegs waren – wie leicht hätte man irgendwo hinunterfallen oder sich anders verletzen können.

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Baumaterial für Berlin

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann der Kalkfachmann Josef Schnuch mit dem Wiederaufbau des Hemkenröder Werkes, dazu legte er den Steinbruch in Destedt an. Auf dem schmalen Weg, den auch wir entlanggekommen sind, transportierten Pferde- und Lastwagen die Steine nach Hemkenrode ins Werk. Das war sehr umständlich und dauerte lange. Daher wurde eine Seilbahn gebaut, die den Steinbruch in Destedt mit dem Werk in Hemkenrode verband. Die Steine wurden in Loren geladen und schwebten die wenigen Kilometer durch den Wald. Am Ziel wurden sie weiterverarbeitet zu Branntkalk, Löschkalk zum Düngen und später auch zu Baukalk. Besonders in Berlin war der Bedarf durch die zahlreichen Bauvorhaben besonders groß. Als 1953 die Spedition Schnellecke in Destedt Konkurs anmeldete, übernahm das Kalkwerk die Schwerlastwagen-Flotte, um den Kalk selbst ausliefern zu können. 1970 endete der Abbau des Steines und die Kalkproduktion, da der Steinbruch erschöpft war.

Von einer alten Abraumhalde hat man einen guten Blick über die nähere Umgebung. Von der eigentlichen Arbeit im Steinbruch ist kaum noch etwas zu sehen. Nach der Einstellung des Betriebes wurden alle Anlagen zurückgebaut. Ob das verrostete Stück Stahlseil von damals kommt oder später hier zurückgelassen wurde, kann man nicht erkennen.

Hoch in den Himmel ragen die Abbruchkanten. Meike Buck
Die steilen Abbruchkanten des Destedter Steinbruchs ragen hoch in den Himmel.

Steinerne Zeugen

Bevor wir wieder Richtung Parkplatz gehen, biegen wir am Ausgang des Steinbruches links ab. Nach rund hundert Metern bergauf gelangt man durch ein wenig Gestrüpp an die Abbruchkante. Vor unseren Füßen fällt das Gelände abrupt ab, bestimmt 40 Meter geht es in die Tiefe. Von hier oben wird das Ausmaß des Steinbruches deutlich. Fast 300 mal 400 Meter betrug die abgebaute Fläche, weiß Failla. Die gegenüberliegende Flanke leuchtet hell in der Sonne, am Grund sind die jungen Birken zu erkennen. Die Natur ist auf dem Vormarsch.

Kurz bevor wir wieder den Plattenweg erreichen, kommen wir an einem kleinen Gebäude vorbei. Ein Bunker, der halb in den Hang gebaut ist. „Hier wurde früher das Dynamit für die Sprengungen aufbewahrt“, erklärt Failla. Das verfallene Gemäuer ist heute Unterkunft von Fledermäusen. Der Bunker und das Transformatorenhaus, an dem die Stromleitung aus Destedt endete, sind die letzten Zeugen des einstigen Industriebetriebes im Elm.

Fledermäuse wohnen heute im alten Dynamitbunker Meike Buck
Der ehemalige Dymanitbunker wird heute von Fledermäusen bewohnt.

Gartenkunst und verwunschene Wildnis

Auf dem Rückweg halte ich noch beim Schlosspark in Destedt an. Die Wassertropfen der Fontäne glitzern in der tief stehenden Sonne, die weiße Brücke im chinesischen Stil, der einzige Zugang zum Park, leuchtet hell. Der Kontrast zwischen der verwunschenen Wildnis des Steinbruchs und dem streng angelegten Garten könnte kaum größer sein. Alte Bäume säumen die Spazierwege, die sich durch den Park schlängeln, akkurat gepflegte Wiesen wechseln sich mit Hecken und Beeten ab. In dem historischen Palmenhaus, in dem früher kälteempfindliche Gewächse überwinterten, kann gefeiert werden, es ist ein beliebter Ort auch für Hochzeiten. Bereits ab 1768 ließ Johann Friedrich von Veltheim den Barockgarten auf dem repräsentativen Gut der Familie als Landschaftspark umgestalten. Damit ist er einer der ersten Parks in Deutschland, die nach einem durchgehenden Gestaltungskonzept angelegt wurden.

Ich schlendere durch diese fantastische Welt, vorbei an alten Baumriesen und exotischen Pflanzen, die Sonne zaubert goldene Lichtflecken auf die Wiese. Immer wieder öffnen sich Sichtachsen auf den Elm, Richtung Harz und Braunschweig. Der Steinbruch war abenteuerlich in seiner Wildheit, hier kann man träumen und die Gedanken schweifen lassen.