Vier Männer stoßen auf einem schwarz-weiß Bild mit Pilsbier an. Fritz Rust

Stadionfunk EXTRA: 125 Jahre Einracht
– zwischen Jägermeisterjahren und Wattenscheid-Wahnsinn

Pünktlich zum 125. Geburstag der Eintracht war unser Regionär Malte Schumacher mit zwei frisch gedruckten Publikationen auf blau-gelber Zeitreise und erinnert sich – an legendäre Platzstürme und trostlose Spieltage.

Neulich abends haben wir uns die Geburtstags-Doku „125 Jahre Eintracht Braunschweig“ von NDR-Mann Patrick Halatsch in der NDR-Mediathek angeschaut. Ein wirklich gelungener Rückblick, der bei mir eine Menge blau-gelbe Assoziationen und Erinnerungen ausgelöst hat. In der gleichen Nacht wurde ich dann zweimal wach: das Geburtstags-Feuerwerk der Ultrás für unsere Eintracht hatte mich aus dem Schlaf gerissen.
 
Schon vor fünf Jahren, zum 120. Geburtstag, wurde in der Nacht auf den 15. Dezember ordentlich gezündelt am Leonhardsplatz – da wird’s wohl auch diesmal hergekommen sein…

In Karl Schapers Wohnung

Am heutigen 125. Geburtstag der Eintracht widme ich mich einem anderen Genuss, nämlich zwei jüngst erschienenen blau-gelben Publikationen: „125 Jahre Eintracht Braunschweig“, eine Chronik der drei Autoren Horst Bläsig, Gerhard Gizler und Hardy Grüne, sowie „125 Jahre Eintracht Braunschweig. Der Gesamtverein von 1895 bis 2020“, ein Magazin von Christian Göttner (JHM Verlag) und seinem Team.

Die Chronik kommt sehr opulent daher, und ich beginne mit der Gründung: Am 15. Dezember 1895 kamen im Haus Leonhardstraße 11, an der Ecke Bertramstraße, Schüler und Kaufleute zusammen und gründeten unsere Eintracht. Das sind von meinem Schreibtisch aus keine 600 Meter Luflinie entfernt…

 

In der elterlichen Wohnung von Karl Schaper, damals wohl gerade 16 Jahre alt, ging’s also los mit dem Fußball- und Cricket-Club Eintracht Braunschweig. Dem Anlass entsprechend wurde dort nun eine Erinnerungstafel installiert. Zum Vergleich: Der Berliner Fußball-Club Germania wurde 1888 gegründet und gilt als der älteste Fußballverein in Deutschland. Der FC Sheffield in England ist wahrscheinlich der älteste Fußballklub der Welt, gegründet 1857.

Das Magazin beschreibt auch, was in der Stadt zu jener Zeit passierte, etwa die Gründung der „Braunschweigischen Mühlenbauanstalt Amme-Giesecke und Konegen“ (später MIAG und Bühler) in der heutigen Ernst-Amme-Straße.

Gut, dass ich neulich nach dem Heimsieg gegen St. Pauli bei Graff beide Publikationen mitgenommen habe. Bislang waren die beiden Bücher von Stefan Peters meine erste Informationsquelle: „Eintracht Braunschweig. Die Chronik“ aus dem Jahr 1998, und „Ein roter Löwe auf der Brust“ von Horst Bläsing und Alex Leppert aus dem Jahr 2010. Das Magazin und die neue Chronik aber gehören in jeden Eintracht-Haushalt – das weiß ich jetzt schon. Die ersten Spielszenen, die ersten Mannschaftsbilder, Fotos der ersten Spielstätte auf dem Kleinen Exerzierplatz am Leonhardplatz (vielleicht 700 Meter weg von meinem Schreibtisch) – das war schon eine andere Zeit…

 

Wild:
Die „Jägermeisterjahre“

Bevor ich nun aber stecken bleibe am Anfang des 20. Jahrhunderts, spüre ich in beiden Veröffentlichungen meiner eigenen Eintracht-Geschichte nach. Aufgewachsen in den 1970er Jahren in Adersheim, zwischen Wolfenbüttel und Salzgitter, kenne ich die Deutsche Meisterschaft 1967 nur aus unzähligen Reportagen. In der Chronik ist meine erste intensive Eintracht-Phase von 1973 bis 1986 sehr treffend mit „Die Jägermeisterjahre“ betitelt. In den 1970ern bin ich das erste mal mit meinen Eltern im Stadion, ich sehe den „Adler“ Bernd Franke, Danilo Popivoda, „Pferde-Franz“ Merkhoffer, Bernd Gersdorff sowie viele andere Eintracht-Ikonen jener Zeit. Und das Jägermeister-Kult-Trikot. Und Paul Breitner – den komischen Vogel, der so gar nicht zur Eintracht und nach Braunschweig passte.

Über die 1970er bei der Eintracht kann man ürbigens auch herrlich in dem Extra-Magazin „Wilde Jahre" aus dem JHM Verlag schmökern.

Vier Männer stoßen auf einem schwarz-weiß Bild mit Pilsbier an. Fritz Rust
Kam 1977 von Real Madrid zur Eintracht: Superstar und Paradiesvogel Paul Breitner.

1980 steigt die Eintracht zum ersten Mal aus der Bundesliga ab. Im Jahr darauf – wir leben mittlerweile in Wolfenbüttel, ich bin 14 und mache schon ein wenig, was ich will – habe ich das nachhaltigste Erlebnis jener Jahre. Eintracht wird Zweitliga-Zweiter und kann sofort wieder aufsteigen – das Relegations-Rückspiel gegen die Offenbacher Kickers am Abend des 10. Juni 1981 muss mit zwei Toren Unterschied gewonnen werden. Es ist Mittwochabend, Flutlicht. Wolfgang Grobe und Ronnie Worm sorgen innerhalb einer Minute für den 2:0-Sieg, Eintracht steigt wieder auf – und ich absolviere den ersten Platzsturm meines Fan-Lebens. Ich habe mein erstes und zweites Stadionbier getrunken, verliere meine Wolfenbütteler Buddies irgendwo auf dem überfüllten Spielfeld aus den Augen, trampe irgendwann alleine nach Hause – und bin nachhaltig beseelt von diesem Erlebnis.

 

Zu Anfang der 1980er Jahre wird’s dann turbulent, Mäzen Günter Mast ist Eintracht-Präsident, die Eintracht steigt 1985 mal wieder ab – und verlässt damit für lange 28 Jahre die Erste Bundesliga.
Am 8. Juni 1985 wird Bayern München im Eintracht Stadion beim Tabellenletzten die Meisterschale überreicht. Bin ich dabei gewesen? Ich weiß es nicht mehr. Die Saison ist von Beginn an vermurkst, Christian Göttner schreibt im Magazin: „Günter Mast verordnete dem Verein einen rigiden Sparkurs […] – das konnte und sollte nichts werden.“

Ich selbst stehe damals ein Jahr vor dem Abitur und habe tatsächlich andere Dinge im Kopf als Fußball. Nein, lernen ist‘s nicht…

In diesen Jahren lebt der Eintracht-Fan von der Erinnerung – weniger an die Deutsche Meisterschaft, als vielmehr an die große Bundesliga-Zeit mit Branco Zebec Mitte der 1970er Jahre.

Zwei Wimpel und ein schwarz-weiß-Mannschaftsfoto. Malte Schumacher
Maltes Erinnerungen an die turbulenten 1980er.

Frühe 90er Jahre:
VfL Herzlake und TuS Hoisdorf

In den späten 1980er und den frühen 1990er Jahren ist mein Verhältnis zur Eintracht dann das, was man wohl eine „on-off-Beziehung“ nennt. Immer mal wieder bin ich im Stadion, mit Freunden oder Kommilitonen – so auch am 6. Juni 1993, als Eintracht gegen den bereits als Bundesliga-Aufsteiger feststehenden MSV Duisburg in den letzten zehn Minuten zwei Buden fängt und in die Dritte Liga absteigt. Dazu gab es einen weiteren Nackenschlag: Wunderstürmer Holger Aden, dessen Stern über Braunschweig seit 1990 funkelte, zog es in die Bundesliga zum VfL Bochum. Christian berichtet über diese Zeit im Magazin auf der Seite 95+1.

Ich aber habe dann erstmal keine Lust mehr auf Eintracht. Der dargebotene Fußball ist eher gruselig, die Gegner heißen Herzlake und Hoisdorf, das Stadion ist ziemlich bröckelig, und die Atmosphäre macht auch nicht glücklich.

Ein Fußballer in einem gelben Trikot. Malte Schumacher
Einer der erfolgreichsten Stürmer der Eintracht-Geschichte: Holger Aden. Er wechselte 1993 zum VfL Bochum.

Mitte der 1990er Jahre aber muss gefeiert werden, auch in Liga drei: 100 Jahre Eintracht. Das Stadion wird modernisiert, die Südkurve entsteht in ihrer heutigen Form und ich bin auch wieder öfter da. So auch im Sommer 1995. Zum 100. Eintracht-Geburtstag ist Werder Bremen der Ehrengast. In der zweiten Minute der Nachspielzeit gibt es einen Freistoß für Werder in Strafraumnähe. Nationalspieler Mario Basler spingt von der Werder-Ersatzbank hoch, sagt zum Coach „Ich will rein“ und lässt sich einwechseln – ohne Aufwärmen. Der Schiri pfeift, Basler läuft an und hebt den Ball über die Mauer in den Winkel des von Mathias Hain gehüteten Eintracht-Tors – 0:1, toller Geburtstag. „Basler, Du Arschloch“ – ich höre es noch heute.

Andererseits: Dieses Spiel wird durch diese Aktion länger in Erinnerung bleiben als es ein 0:0 je geschafft hätte. Und geile Trikots hatten wir damals, mit lustigen Sponsoren-Aufdrucken: Frank & Walther und V-Markt. Und dann kam auch die große Bundesliga-Welt mal wieder bei uns vorbei: Benno Möhlmann wird Trainer und es geht leicht bergauf in Liga 3…

Ein Mannschaftsfoto, die Spieler in gelben Trikots. Archiv Braunschweiger Zeitung
Die Löwen-Elf aus der Saison 1995-96.

18. Mai 2002:
Wattenscheid 09, Stadiongras und „Uschi-Bar“.

Ende der 1990er Jahre kicke ich zusammen mit Markus in meiner Thekenmannschaft „SCH Lampe Braunschweig“ und begleite ihn fortan wieder regelmäßig ins Stadion.

Dort steht er in Block 6 mit anderen Buddies aus dem Nord-Osten von Braunschweig – aus Grassel, Bevenrode und Waggum. Hier entsteht damals der Spirit für unseren Fanclub, die „Bewegung 18. Mai“ – benannt nach jenem Aufstiegs-Endspiel am 18. Mai 2002 gegen Wattenscheid 09. Ich bin zwar längst nicht mehr 14 – aber auch dieser Tag und diese Nacht sind bis heute unvergessen. Beim Platzsturm nach dem legendären 2:1-Sieg esse ich Stadion-Gras und ergattere eine Schraube vom Tor. Irgendwie lande ich in der „Uschi-Bar“ am Prinzenpark – wie und warum, weiß ich nicht mehr…

Kurz darauf begründen wir offiziell unseren Fanclub, denn es war genauso, wie die Autoren in der Chronik schreiben: „Der Tag der Befreiung“. So fühlte sich das an für uns nach neun tristen Jahren in der Dritten Liga.

Eine blau-gelbe Fahne. Malte Schumacher
Die Fahne der Fan-Gruppe „Bewegung 18. Mai" erinnert an den Tag des Wiederaufstiegs in die zweite Liga nach neun Jahren Drittklassigkeit im Jahr 2002.

Es geht weiter aufwärts:
Die Lieberknecht-Jahre

Und dann kommen die Jahre mit Torsten Lieberknecht als Trainer, in denen sich im Grunde wie im Brennglas die ganze 125-jährige Eintracht-Dramatik wiederfindet: Zunächst der um Haaresbreite vermiedene Abstieg in die vierte Liga am 31. Mai 2008, dann der Aufstieg in die zweite Bundesliga am 10. April 2011 in Unterhaching, wo ich mir im Sieges-Trubel einen von Deniz Dogan abgeschossenen Champagner-Korken sichere.

Und schließlich der Bundesliga-Aufstieg am 26. April 2013 beim MTV Ingolstadt durch das Freistoß-Tor von Damir Vrancic. Das war für Kay Rohn und mich auch der Auftakt zu unserem Schreiben über die Eintracht – erst in unserem Buch über die Bundesliga-Saison, erschienen 2014, dann über unseren Blog „Stadionfunk“ auf die-region.de bis heute.

Zwei Hefte und ein Champagnerkorken. Malte Schumacher
... und Deniz Dogan schoss den Korken ab: Eintracht Erinnerungen in Kork- und Papierform.

Fan-Fazit: Sowohl Chronik als auch Magazin sind extrem lesenswert und schaffen es, die 125 bunten Jahre unseres Turn- und Sportvereins in all‘ seinen Facetten beeindruckend lebendig werden zu lassen.