Nicht nur eine Seefahrt, die ist lustig! Auch eine Radtour kann schön sein. Obwohl diese hier im Landkreis Peine es manchmal in sich hat. Nicht unbedingt wegen der konditionellen Herausforderungen. Die packt ein jeder Freizeitradler. Bitter wird es eher, wenn man im Kalender ein paar Jahrzehnte zurückblickt.
Von Wundern und Weltenwahn
- Eine Radtour im Landkreis Peine
Letztes Jahr sind wir an der Donau geradelt. Das war schon was, allein Passaus Muskelspiele mit drei Flüssen, wer wollte gegen diesen Protz schon anfließen! Und das auch noch als Kanal, dem ja eine gegen Null gehende Fließgeschwindigkeit nachgesagt wird. Wahrscheinlich bekäme der schnurgerade, tiefdunkeltrübe Stichkanal in keinem Reiseführer auch nur einen Stich gegen die schöne blaue Donau. Geschweige denn ein Sternchen auf einem Bewertungsportal. Aber vielleicht ist das auch ein bisschen hochnäsig von der opulent wogenden Donaudame? So eine Tour, direkt von der Haustür weg, ohne elendige Vertäuung der Räder auf dem Autogepäckträger, kann auch ihren Charme haben.
Weltgeschichte am Kanal
Wir starten an der Schleuse in Wedtlenstedt. Kaiserwetter. Auch ohne blaue Donau. Wenn sich der Himmel so hellblau spannt wie auf einer herzig naiven Kinderzeichnung, dann . . . Ja, selbst dann verliert das Schleusengebäude nichts von seiner monumentalen Wucht. Da muss man gar nicht Dr. Google bemühen und erst recht nicht ein Semester Architektur abgesessen haben, um die strengen Machtklotz-Zwillinge als Bauwerk aus der Zeit der Nazischreckensherrschaft zu erkennen. Die Kanalschleuse war im April 1945 Schauplatz von Verhandlungen über die Kapitulation Braunschweigs. Ohne Ergebnis. Erst zwei Tage später ergab sich die Stadt.
Wenn man mehr als 75 Jahre später an diesem idyllischen Flecken steht, die Bäume einzig und allein munter rauschende Lichtreflexspiele im leuchtend satten Maiengrün sind, auf einer Liegestelle am Kanal ein inniges Paar den Moment genießt und auf dem Wasser ein endlos langer Kahn mit harmloser Ladung langsam an einer Gruppe entspannter Angler vorbeizieht– dann fröstelt`s einen dennoch ob dessen, was sich hier abgespielt haben mag.
Fernweh mit Evel Knievel
Wir satteln auf und radeln unterm Blätterdach Richtung Sonnenberg. Der Kanalweg ist hier schotterig, aber gerade wie ein Lineal, man kann seinen Gedanken nachhängen derweil die Reifen über den groben Untergrund holpern. Die Schleuse im Rücken wird kleiner, der saudämliche, relativierende Satz von AfD-Chefstratege Alexander Gauland am 8. Mai, mit dem er in seiner kraus-kruden Denke den Tag der Befreiung als einen „Tag des Verlustes von Gestaltungsmöglichkeiten“ deuten wollte, dieser Satz, der mir eben noch mal die Galle hochkommen ließ, fliegt auf dem Schottergeholper aus meinem Gedankenstrom und säuft im Kanal ab.
Neben uns schnurrt ein Schiff gemächlich durchs Wasser. Wenn man jetzt wie einst Motorradstuntman Evel Knievel einen gewaltigen Sprung wagen würde, wo brächte das Schiff einen wohl hin? Fernweh neckt mich noch einen Moment lang, doch dann mahnt mein Gatte, dass wir hinter der Brücke hoch zur Straße müssen.
Rabotti rabotti
Von Sonnenberg geht es über Wierthe nach Alvesse. Zwar an der Straße entlang, aber die ist breit und wenig befahren. An so einem Sonnabend im Mai, wenn selbst die verpenntesten Gärten endgültig aus dem Winterschlaf gerissen werden, sind gefühlt alle entweder im Gartenbaumarkt oder in der coronabedingten Schlange davor. Oder eben im Garten. Die Mäher jaulen im dissonanten Motorengebrüll um die Wette mit den hochtourigsten Kärchern, hier wird eine Terrasse neu gepflastert, dort ein Gartenhäuschen gezimmert, auf dass all die Gerätschaften hübsch ordentlich ein Dach über dem Kopf haben. Rabotti rabotti trällere ich meinem Mann zu. Er guckt so, als hätte er meinen zarten Ausruf als dezenten Hinweis grob missverstanden, sich doch auch mal öfter in unseren Garten einzuwühlen und auszurabotten.
Bikini und Kirche
Kurze Trinkpause an der Kirche in Alvesse. Immer wieder erstaunlich, dass selbst das klitzekleinste 450-Seelen-Dörfchen so ein schmuckes Gotteshaus in seiner Dorfmitte hat. Auf einer Terrasse trotzt eine Frau im Bikini der Kalten Sophie. Und ich bin froh, dass es auch noch andere Menschen gibt, die den Garten vor allem ob seiner Liegen-Eigenschaften schätzen.
Ackerfurche, soweit das Auge reicht
Wir radeln weiter über Vallstedt nach Lengede. Auf der Strecke sieht man in der Ferne den Förderturm von Schacht Konrad. Davor recken sich die Windräder wie eine Ballettcompagnie in die Szenerie. Und im Dunst, ganz weit am Horizont dieser Landschaftsmalerei, erhebt sich der Brocken. Gelb knallt sich von links der Raps auf die Linse, ich kneife die Augen zusammen. Blöd, die Sonnenbrille zu vergessen.
Manche sagen ja, Niedersachsen sei ein wenig öd. Flachebene eben, nichts als Agrarwüste. Ackerfurche, so weit das Auge reicht. Okay, das Repertoire an Haltepunkten für den Blick ist schon ein wenig schmal. Aber andererseits: nichts hält den Blick hier auf, er kann sich aufpumpen und Weite ausmessen und verfängt nicht ständig an optischen Barrieren. Man kann ihn laufen lassen. Wie das Fahrrad.
Pony beim Gassi gehen
Aaaahhhh! Ich schrecke zusammen, strauchele fast. Neben mir hat ein Motorradfahrer im Überholvorgang so richtig schön aufgedreht, so dass der Tinnitus, den ich bis eben noch nicht hatte, piepiep macht. So`n A….. Früher bin ich auch Motorrad gefahren, dicke Hose war da nie mein Motto, aber manche brauchen diesen akustischen Potenzkraftverstärker wohl fürs fadenscheinige Selbstwertgefühl unter der dicken Lederjacke.
Ich denke noch mal an das wie nur für uns zwei Radler theatral inszenierte Bullerbü-Bühnenbild in Alvesse: Ein Pony auf dem Bürgersteig, das von seiner Reiterin im krautigen Butterblumenstraßenrand, ja, wie soll man das nennen: Gassi geführt wird. Wenn ich das Adjektiv „süß“ nicht als inflationär missbrauchte Standardfloskel für alles und jeden, als verbale Gesprächsfoltermethode aus meinem Wortschatz gestrichen hätte, wäre es mir fast rausgerutscht in diesem Moment. Aber ich hab mich gezügelt.
Trimm Dich oder Bierchenbank
Wie eine Fata Morgana in der norddeutschen Tiefebene taucht dann der Seilbahnberg vor uns auf. 157 Meter hoch, sag mal nichts! Die wollen erst mal erklommen werden vom Flachlandtiroler. Wir gurken ein bisschen über die schmalen Pfade, passieren Trimm-Dich-Pfad-Stationen und steuern dann doch lieber die nächste Bank für ein Kaltgetränk aus der Satteltasche an. Ein Discgolfer zieht seine Bahnen.
Wir sitzen hier quasi am Fuße des Abraums aus dem Erztagebau der Grube Sophienglück-Mathilde. Als man sich entschloss, den Abraum auf eine Halde zu kippen, wurde 1917 ein Gerüst mit einer Drahtseilbahn gebaut. Daher der Name. Heute ist dieser unnatürlich unwirklich aus der Ebene aufragende und darob ein wenig geheimnisvoll scheinende Berg ein irgendwie märchenhaft, verwunschener Ort. Zum Ruhen oder Turnen, Discgolfen oder Eisenbahnen, knutschen und Bierdosen kippen. Ja, ehrlich, dort zuckelt an ausgewählten Tagen sogar eine Eisenbahn herum. Aber nicht heute. Nicht für uns. Wir wollen weiter.
Auf dem Steigerweg zum Gedenken
Einmal Richtung Legende-Ortsmitte, zwei Mal die Gleise passiert und dann den Schildern Richtung Gedenkstätte folgen. Vorher noch ein Eis auf die Hand beim italienischen Eis-Café Pelmo, das stilecht mit kleinkindgroßer Plastikeistüte vorm Laden wirbt, innen ein bisschen ramponiert vor sich hin dämmert, aber seine Eisqualität auf einem gehobenen Donauniveau hält.
Um zur Gedenkstätte Lengeder Grubenunglücke zu gelangen, radeln wir durch ein Gewerbegebiet. Könnte überall in Deutschland ähnlich austauschbar aussehen. Party- neben Industrieservice, Fahrzeughandel und Waschcenter, Gummierungstechnik, Putzlappenrecycling. Aber die Straßennamen lassen einen schon die Vorgeschichte des Geländes erahnen. Erzring, Hauerstraße, Grubenweg, Steigerweg, Schacht-Anna-Ring. Hier hat sich im Herbst 1963 ein Bergwerks-Unglück ereignet, das sich schließlich noch zum „Wunder von Legende“ wandelte. 14 Tage trauern, bangen, hoffen, nachdem am 24. Oktober 1963 kurz vor 20 Uhr der erst kurz zuvor gebaute Klärteich einbricht. Fast 500.000 Kubikmeter Schlamm und Wasser fluten die Grube Mathilde. 118 Arbeiter sind da im Schacht. 29 Menschen sterben, 89 werden gerettet, die letzten am 7. November.
Es ist ein bescheidener, würdiger Ort der Erinnerung. Alter Baumbestand, viel freie Fläche zum Durchatmen. Hier kann man sich bewegen, kann befreit Luft holen. Luft, die den Bergmännern fehlte da unten im Schacht. Liest man sich ein in die Tafeln und Überlebensberichte von damals, dann verliert diese Rettung von Lengede auch heute noch, Jahre danach nichts von dem überwältigenden, göttlichen Funken eines Wunders.
Sausewind am Seilbahnberg
Für uns geht`s zurück. Wir keuchen vorbei an den Lengeder Teichen, die sich im Bereich der ehemaligen Abbauflächen befinden. Ganz schön berg-und talbahnig hier. Verhakte Bandscheiben können sich auf diesem schmalen Buckelweg wieder freispringen. Rennradler mit zimperlichen Reifen sollten vielleicht auf der Straße bleiben. Hinter Lengede geht`s links ab auf die Straße Zum Seilbahnberg. Richtung Bodenstedt. Hier kannst du es mal richtig laufen lassen, juchuuuuuuuuhh. Gib Kette, Alter. Mein Alter kann da nur milde lächeln, als bergischer Jung` ist er Karacho anderen Kalibers gewöhnt. Mir reicht der Sausewind der mild sich neigenden Straße.
Die ZeitRäume in Bodenstedt sind an unserem Ausflugstag coronabedingt noch geschlossen. Es gibt ein nächstes Mal. Jetzt über Köchingen, Vechelde und Vechelade nach Hause. „Ich geb Dir einen aus“, schenke ich meinem Mann einen Kussmund und biege nach der Brücke über den Stichkanal bei Wedtlenstedt zum Lokal Am Yachthafen ab. Hier kann man Boote gucken, ein bisschen neidisch werden - wenn man die garstige Neigung zum Neid hat - und ansonsten wunderbar mediterran ein Kaltgetränk unter Palmen(kübeln) kippen und das Gesäß vom vielen Sattelsitzen auslockern. Heute leider nur: Außerhaus-Service. Kein Pils. Also ab nach Hause. So ein Ausflug von Haustür zu Haustür ist gar nicht mal so schlecht, liebe Donau.