Ein Springbrunnen ohne Wasser, ein Kloster ohne Kreuzgang und die Kühe im Garten – das Klostergut Heiningen ist ein verwunschener Ort. Nach unserem Besuch auf der Werla vor wenigen Monaten sind Marco Failla, Kreisheimatpfleger des Landkreises Wolfenbüttel, und ich heute in dem Ort am Fuße des Oderwaldes verabredet.
Klostergut Heiningen
Wo die Kühe im Klostergarten weiden
Ein verwunschener Ort
Ruhig und idyllisch liegt Heiningen vor mir, als ich mich mit dem Auto auf der Landstraße durch den Höhenzug Oder dem Ort nähere. Inmitten leuchtend gelber Rapsfelder ragt der hohe Kirchturm auf und bietet Orientierung. Mitten in dem Ort liegt das Klostergut. Eine hohe Mauer mit Tor direkt an der Hauptstraße markiert das Gelände. Das ehemalige Klostergelände betreten wir jedoch aus Richtung Süden. Wir wollen das noch trockene Wetter nutzen und sparen uns die Kirche für später auf. Der schmale Weg führt rechts an dem Gotteshaus vorbei und hinter dem Chor entlang. Unter blühenden Apfelbäumen fällt der Blick auf grüne Wiesen und alte Bäume, dazwischen Fragmente historischer Bauten – eine Säule, eine Mauer, eine einsame Statue. Immer wieder stiefeln wir durch hohes Gras, gelb blühenden Löwenzahn und unzählige Gänseblümchen.
Kühe im Klostergarten
Vor uns erhebt sich ein verfallenes Gebäude. „Die alte Meierei, der Sitz des Verwalters“, erklärt mir Marco Failla. Hier wohnt ganz offensichtlich niemand mehr. Die Fensterscheiben sind zerbrochen, die Laibungen verbrettert; durch die Spalten hat sich das Efeu seinen Weg gesucht. Als wir das Gebäude umrunden, öffnet sich vor uns ein großer Innenhof, u-förmig umstanden von Gebäuden. Große, alte Bäume prägen den Innenraum, auf einer Wiese stehen Kühe und kauen das saftig-grüne Gras. Wir wenden uns zunächst nach rechts, auch die Gebäude hier, ehemalige Ställe und Scheunen, sind verfallen. Verrostete Geräte und Fahrzeuge zeugen von der landwirtschaftlichen Nutzung des Gutes.
Ein Ort mit Geschichte
Das Kloster Heiningen wurde im 10. Jahrhundert gegründet. Seine Nähe zur Pfalz Werla sorgte schnell für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Bei dem letzten Ausflug mit Marco Failla habe ich erfahren, dass die Pfalz im 13. Jahrhundert aufgegeben wurde. Vermutlich ist das einer der Gründe, warum es auch mit dem Kloster bergab ging. Im 16. Jahrhundert sind die entscheidenden Ereignisse der Klostergeschichte eng mit der großen politischen Geschichte und der Reformation verflochten. Während der Hildesheimer Stiftsfehde kam Heiningen 1523 vom Bistum Hildesheim an das Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel.
Das Kloster im Wandel der Zeit
Anhänger des Schmalkaldischen Bundes, des Verteidigungsbündnisses protestantischer Fürsten, vertrieben den katholischen Heinrich den Jüngeren aus seinem Land und plünderten das Kloster. Das Kloster wurde reformiert, jedoch im Jahre 1547 durch die Rückkehr des Herzogs rekatholisiert. Im Jahre 1569 erfolgte die zweite Reformation des Klosters Heiningen. Doch bereits 1629 wurde das Kloster wieder katholisch. Mir schwirrt ein wenig der Kopf von den vielen Zahlen und Religionswechseln. Wie mag es für die Frauen gewesen sein, von einem Tag auf den anderen, auf herzoglichen Befehl, ihren Glauben zu wechseln? Während des Dreißigjährigen Krieges wurde das Kloster zerstört. Sein Wiederaufbau dauerte viele Jahrzehnte. Doch es wurde schließlich wieder zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor, zu einem Zentrum des Kunsthandwerks und einer Stätte der Frömmigkeit und des Gebets. Die Einflüsse der großen Politik waren jedoch vorbei, die Wirkung des Klosters beschränkte sich auf die unmittelbare Umgebung.
Neues Leben auf dem traditionsreichen Gut
Am Ende der großen Hoffläche ist plötzlich ordentlich was los. Unversehens sind wir in den Klosterguter Regionalmarkt geraten. Topfkräuter und Gemüsepflanzen, Marmelade und Kräuterliköre, Käse aus der Klosterkäserei und Wildbratwurst. Einige Tische laden zum Kuchenessen ein, darunter pickt ein Huhn nach heruntergefallenen Krümeln. Seit rund 300 Jahren ist das Gut im Besitz von Familie Degener, die hier seit vielen Jahren einen alternativen landwirtschaftlichen Betrieb führt. Nach der völligen Abwirtschaftung des Gutes im Jahr 1982 wurden alle Ländereien sowie einige Teile des Gutsgeländes verkauft. Zwei Zimmereibetriebe und eine Landschaftsgärtnerei sind heute auf dem Hof angesiedelt. 1985 wurde mit dem Aufbau einer Milchviehherde als Grundlage für eine ökologische Landwirtschaft begonnen.
Soziale Landwirtschaft und Bauernhofpädagogik
Seit 1996 gibt es eine Hofkäserei, in der auch Kurse zum Herstellen von Käse angeboten werden. In einem Hofladen werden die Produkte direkt verkauft. Eine Elterninitiative betreibt einen Kindergarten. Die Tiere kennenzulernen, den Bauernhof zu entdecken und mit allen Sinnen zu erfahren, gehört zum Konzept der Bauernhofpädagogik. Im Projekt der sozialen Landwirtschaft werden therapiebedürftige und sozial benachteiligte Menschen, z. B. mit psychischen, geistigen oder körperlichen Behinderungen, Langzeitarbeitslose, Geflüchtete, ehemalige Straffällige und alte Menschen als aktive Ruheständler in den Betrieb eingebunden. Verschiedene Wohnungen und Räumlichkeiten bieten zudem Platz zur Entfaltung kultureller und künstlerischer Ideen. In Planung sind der weitere Ausbau von Forst- und Landwirtschaft, Gartenbau, Werkstätten und der Direkthandel mit Holz und Gemüse, insbesondere als Grundlage für die Arbeit mit Benachteiligten.
Wenige Tage nach unserem Besuch auf dem Gut lese ich mit großem Schrecken in der Zeitung, dass eine Scheune und Teile eines Wohnhauses abgebrannt sind. Wir lassen den trubeligen Markt hinter uns und laufen eine weitere Seite des großen Us ab. Immer wieder steigt mir der Duft von blühendem Flieder in die Nase.
Das Ende des Klosters
Wir folgen dem Weg, als sich rechts von uns ein schlichtes, aber repräsentatives Gebäude erhebt. „Es wurde vermutlich 1681 als Priorei gebaut“, erfahre ich von Marco Failla. Hier hatte also die Priorin des Klosters ihren Wohnsitz. Das heutige klassizistische Aussehen bekam es Anfang des 19. Jahrhunderts. Nach der preußischen Niederlage gegen Frankreich fiel Heiningen an das neugegründete Königreich Westfalen. Die chronische Finanznot des Königreichs führte zu immer neuen Steuerforderungen und zum wirtschaftlichen Niedergang des Klosters. Wie viele andere geistliche Einrichtungen wurde es schließlich 1810 säkularisiert und aufgelöst. Amtsrat Samuel Markwort kaufte das Kloster mit den dazugehörigen Ländereien, Wäldern, Teichen und Weiden. Viele Gebäude des ehemaligen Klosterhofes wurden in den letzten zwei Jahrhunderten abgerissen. Von den Klausurgebäuden ist nur noch ein kleiner Rest erhalten. Die ehemalige Priorei, vor der wir stehen, wurde als repräsentatives Gutshaus umgestaltet; dahinter ein großzügiger Landschaftspark angelegt. Eine imposante Blutbuche zeugt noch immer von der Ausstattung des Gartens. Die steinernen Nixen mit ihren Fischschwänzen vor dem Gutshaus wirken heute etwas verloren in dem trockengelegten Becken des Springbrunnens.
Kirche mit Knick
Als die ersten Regentropfen fallen, gehen wir in die Kirche. Mit dem großen Schlüssel, den wir von der netten Küsterin bekommen haben, öffnet sich die schwere Tür. Wir stehen in dem schlichten Kirchenraum, der einige Geheimnisse birgt. Zunächst wenden wir uns nach links in das Kirchenschiff. Im Westen unter dem Turm befindet sich die große Orgel – erbaut Ende des 19. Jahrhunderts. Sie zählt zu den bedeutsamsten Instrumenten in der Region. An der Nordseite fehlt der größte Teil des ehemaligen Seitenschiffs. Es wurde bei einem Brand zerstört und nicht wiederaufgebaut.
Als wir uns Richtung Altar wenden, fällt sofort auf, dass die Kirche einen Knick macht, der Chor „tanzt aus der Reihe“. „Das kann baustatische Gründe haben, wenn die Kirche zwischenzeitlich umgebaut oder Pläne angepasst werden mussten“, erklärt mir Marco Failla. Theologisch wird es gerne mit dem zur Seite geneigten Haupt des gekreuzigten Jesus erklärt. Er weist mich auch darauf hin, dass die Wände im oberen Teil auffällig nach außen geneigt sind. „Solche baulichen Begebenheiten erlebt man oft, wenn Gewölbe nachträglich eingezogen wurden. Hier scheint das aber vor allem durch die teilfehlenden Baulichkeiten von Chor- und Seitschiff zu erklären zu sein.“ Die hell gestrichenen Kirchenbänke und die Orgel, die weißen Wände und viele Fenster lassen den Raum freundlich wirken. Die karge Ausstattung ohne Bemalung und wenig Schmuck unterstreicht die klare romanische Architektur. Lediglich an einem Gewölbe an der südlichen Chorseitenkapelle sind Bemalungen aus dem 13. Jahrhundert freigelegt worden. Heute ist die Kirche das Gotteshaus der katholischen Gemeinde Heiningen, die zum Pfarrverband St. Petrus in Wolfenbüttel gehört.
Zwei mutige Frauen
An einem Pfeiler im Hauptschiff der Basilika beobachten zwei Damen das Geschehen in der Kirche mit ihren steinernen Augen. Marco Failla stellt vor: Hildesvit und ihre Tochter Walburgis, die beiden Klostergründerinnen. Sie wandelten um das Jahr 1000 einen bereits bestehenden Herrensitz des sächsischen Herzogshauses der Billunger in eine fromme Stiftung um. Bischof Bernward reiste mit den beiden Frauen nach Rom, um bei Kaiser Otto III. das Stift unter königlichen Schutz stellen zu lassen. Mutter und Tochter weihten ihre Gründung der Gottesmutter und des heiligen Petrus und statteten es mit beträchtlichem Grundbesitz aus.
Klosterleben, Stickereien und Textilarbeiten
Zunächst waren es überwiegend adelige Damen, die in das Kloster einzogen. Aber bereits 1126 wurde es in ein Augustinerchorfrauenstift umgewandelt. „Die wichtigste Änderung war die Einführung der Klausur“, erläutert Marco Failla. „Die Bewohnerinnen durften nun den abgeschlossenen Klausurbereich nicht mehr verlassen.“ Aber mit der Zeit wurden die strengen Regeln vernachlässigt, sodass 1451 eine erneute Reform nötig war, um sich wieder auf das geregelte Klosterleben zu besinnen. Laut Aufzeichnungen lebten hier zwischen 20 und 30 Frauen, die von zahlreichen Laien unterstützt wurden. Das Stift war besonders für seine Stickereien und Textilarbeiten berühmt, einige der historischen Antependien werden im Pfarramt, im Kloster Marienberg bei Helmstedt und im Victoria-and-Albert-Museum in London aufbewahrt.
Wir schließen die Kirchentür wieder hinter uns. Erfüllt mit vielen Eindrücken kehre ich zu meinem Auto zurück. Der Besuch in Heiningen hat mich wirklich überrascht, ein besonderer Ort, über den so wenig bekannt ist.