In vielen Menschen weckt der Begriff Standardtanz Erinnerungen an die frühe Jugend. Damals, als man in der Tanzschule mit pubertärer Schüchternheit die ersten Schritte im Walzertakt wagte, peinlich berührt vom Kontakt mit dem anderen Geschlecht. Zum Glück wurde mir als Teenager dieses Elend erspart – andererseits bewundere ich heute die, die gemeinsam in harmonischer Schrittfolge die Tanzfläche erobern. Dass Standardtanz auch ein Leistungssport sein kann, habe ich erst bei einer Probe der A-Formation des Braunschweiger Tanz-Sport-Clubs e. V. (BTSC) realisiert.
Flott und erfolgreich
Die A-Formation des Braunschweiger Tanz-Sport-Club-Vereins
Mehr als nur ein Hobby
Der BTSC ist bereits seit 1962 Heimat verschiedenster Tänze, von Bollywood bis Lindy Hop. International verbindet man den Namen mit Leistungstanzsport der obersten Liga. Bereits zehn Mal konnte die Standardtanzformation um Erfolgstrainer Rüdiger Knaack den Weltmeistertitel nach Braunschweig holen. Zehn Mal standen sie als Europameister auf dem Treppchen und ganze 18-mal konnte das Team innerhalb Deutschlands den Pokal als beste Standardtanzformation ertanzen. Doch was auf dem Parkett so leicht und anmutig wirkt, ist in Wahrheit das Ergebnis harter langwieriger Arbeit.
Vier bis fünf Mal die Woche steht Training auf dem Plan der 26-köpfigen Formation, bestehend auf 18 Stamm- und 10 Ersatztänzern. Mindestens drei Stunden lang üben sie unter höchster Konzentration und mit vollem Körpereinsatz die Choreografie, bis jeder einzelne Schritt perfekt sitzt. Die Teammitglieder nehmen teilweise stundenlange Anreisen, unter anderem aus Frankfurt in Kauf, um ihr Team bei der Umsetzung der facettenreichen Choreografie zu unterstützen.
Andere sind sogar extra für den Sport nach Braunschweig gezogen. Geld mit dem Tanzen verdient jedoch keiner von ihnen. Es fehle dem Sport an Anerkennung, wird mir später erzählt, daher blieben die großen Sponsoren aus. Training, Turniere und Auftritte müssen die Tänzer neben ihrer ganz normalen Arbeit, ihrem Studium und der Familie stemmen. Ein wahrer Kraftakt. Doch trotz dieses hohen Aufwands und des damit verbundenen Verzichts auf spontane Kinobesuche oder gemütliche Abende zu zweit, kann sich keiner von ihnen ein Leben ohne den Leistungssport vorstellen.
„Hier werden keine Schritte mehr erklärt“
Es ist Donnerstag, 20:30 Uhr und das Team hat sich zur Generalprobe vor dem großen Bundesligaturnier am Samstag in der VW-Halle zusammengefunden. Als ich den Saal betrete, wärmen sich bereits die ersten Stammpaare und Ersatztänzer auf. Das Gefühl, permanent im Weg zu stehen, macht sich bei mir breit. Mit kraftvollem Tempo jagen die Paare im Gleichschritt durch den Saal, mit einer Energie, die in mir die Befürchtung weckt, dass ein Zusammenprall ernsthafte Folgen haben könnte.
Daher geht es für mich an den Rand der Tanzfläche, wo ich auf Christina Vetter und Felicitas Volkmer treffe, ihres Zeichens Teamsprecherinnen der A-Formation. „Wir sind quasi das Bindeglied zwischen Team und Trainer und achten darauf, dass auch die Ersatztänzer hin und wieder eine Show mittanzen dürfen“, erklärt mir Felicitas. Beide Frauen sind schon seit über fünf Jahren Sporttänzerinnen, Christina schon seit ihrem zehnten Lebensjahr. „Jede Person, die in der A-Formation anfängt, hat bereits Erfahrungen im Standardtanz gesammelt. Es werden keine Tanzschritte mehr erklärt – die Grundlagen müssen sitzen“, erzählt mir später Co-Trainer Thomas Kitta, ebenfalls seit über 35 Jahren im Tanzsport aktiv – früher als Stammtänzer der A-Formation, seit zehn Jahren als Co-Trainer an der Seite von Rüdiger Knaack.
Jede Bewegung auf dem Prüfstand
Nach einem mentalen Durchlauf, bei dem die Tänzer die Choreografie zur Musik im Kopf durchgehen, beginnt das Training mit dem ersten Durchgang in Turnieraufstellung. Ein fein abgestimmter Mix aus verschiedenen Pophymnen wie „Footprints in the sand“ von Leona Lewis und „Nothing else matters“ von Metallica ertönt durch den Saal. „Ein Arrangeur schreibt jede Note nach unseren Vorstellungen um und lässt das fertige Medley komplett neu einspielen – vom Schlagzeug bis zum Gesang“, berichtet Thomas Kitta. Er und Rüdiger Knaack zeigen sich seit über 30 Jahren verantwortlich für die Zusammenstellung der Tanzmusik und der Choreografie. „Zuerst stellen wir ein grobes Medley zusammen – heute am PC, früher noch mit der Bandmaschine. Da haben wir Tesafilm zwischen die einzelnen Bandschnipsel geklebt“, erinnert er sich lachend. Während wir uns unterhalten, nimmt eine Kamera, bedient von einem der Ersatztänzer, jede einzelne Bewegung der Formation auf. Später lerne ich, dass zum Tanztraining auch viel Analysieren am Bildschirm gehört. Nach jedem Durchgang wird gemeinsam das Videomaterial geprüft und nach Fehlern abgesucht.
Heute sind alle besonders kritisch. „Der Druck für jeden Einzelnen ist beim Tanzen in der Formation extrem hoch“, erklärt Thomas. „Der Fußballer kann an der Außenlinie hoch- und runtertraben – andere Spieler fangen das auf. Hier aber kann jeder einzelne verpatzte Schritt über Sieg und Niederlage entscheiden.“
Die Stimmung ist gedrückt. Unzufriedenheit macht sich breit. Die Aufstellungen sitzen noch nicht so wie gewünscht, Feinheiten passen noch nicht. Ich habe davon nichts bemerkt. Alles, was ich auf dem Video sehe, ist eine Einheit aus Musik und Bewegung, die den Raum mit rhythmischer Energie füllt. „Zum Ende der Saison ist ein Lagerkoller nicht wegzudiskutieren“, meint Thomas Kitta. Seit fast acht Monaten ist das Team auf Achse – auf Turnieren, beim Training oder bei Auftritten. Nach dem Bundesligaturnier gönnt sich das Team daher auch eine wohlverdiente Pause, bevor es in die Vorbereitungen für die Weltmeisterschaft im November weitergeht, bei der die Formation natürlich mit neuer Choreografie glänzen will.
Drei Tage später …
… erfahre ich, dass das Team am Samstag den Pokal geholt und sich so als Turnier- und Tabellensieger vorzeitig für die WM am 25. November qualifiziert hat. Und erneut ist Braunschweig als Stadt erstklassigen Standardtanzes international in aller Munde. Danke dafür!