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Stadionfunk – die Eintracht Braunschweig-Kolumne:
Abnutzungserscheinungen und Identität

Am vergangenen Samstag war der Hallesche FC zu Gast im Eintracht-Stadion. Es war das letzte Heimspiel vor der Winterpause und immer noch warten die Löwen auf wichtige drei Punkte im Abstiegskampf. Ein Spiel, zwei Perspektiven. Unsere Regionäre Malte Schumacher und Kay Rohn berichten.

Malte Schumacher

Nacht der langen Messer

Bis Mittwoch stand die Woche vor dem Halle-Spiel auch für mich unter dem Eindruck der Jahreshauptversammlung am Donnerstag. Ich habe hin- und herüberlegt, ob ich mir dieses erwartbare Massaker, diese „Nacht der langen Messer“, live und in Farbe antun möchte – oder eben nicht. Ich bin „nur“ Fördermitglied, da ich keinen Sport treibe im Eintracht Braunschweig e.V. – zur Abstimmung zugelassen also bin ich gar nicht. Passend zur stets unbefriedigenden Kommunikation meines Vereins war mir auch nicht klar, ob Fördermitglieder als Besucher zugelassen sind. Zitat Eintracht-Website: „Anspruch auf Zutritt zur Versammlung haben aus Kapazitätsgründen ausschließlich Mitglieder nach Vorlage des gültigen Mitgliedsausweises. Zudem wird die Veranstaltung für Gäste nach außen übertragen.“ Kein Wort zu den Fördermitgliedern …

 

Abnutzungserscheinungen bei mir

Am Mittwoch hat sich das Thema für mich in dem Moment erledigt, als der Orthopäde Dr. Schöder mir sagte, dass die Taubheit in meiner rechten Hand und die messerstichartigen Schmerzen in meiner rechten Schulter deutlich auf einen Bandscheibenvorfall im Nackenwirbelbereich hindeuten. Therapie bis auf Weiteres: dreimal täglich Entzündungshemmer (Ibuprofen 600) und zum Schlafen bitte eine Halskrause tragen. Na super, scheiß Schreibtischarbeit, denke ich. „Herr Schumacher, Sie sind über 50, das sind ganz normale Abnutzungserscheinungen …“ Na toll … Obwohl: Der Hallesche FC ist genauso alt wie ich (Jahrgang 1966) – vielleicht präsentiert sich unser Gegner am Samstag auch ordentlich abgenutzt …

 

Frischer Wind?

Die Jahreshauptversammlung geht dann wohl doch ohne Pöbeleien, fliegende Gläser und Boxeinlagen über die Bühne – so entnehme ich es am Donnerstag und Freitag allen mir zur Verfügung stehenden Informationskanälen. Robin Koppelmann schafft es nicht in den Aufsichtsrat – oder andersherum: Die anwesenden Mitglieder schaffen es einfach nicht, alte Aufsichtsratsmitglieder abzuwählen. „Die Revolution bleibt aus“ überschreibt die Braunschweiger Zeitung am Samstag ihren Bericht. Tobias Rau ist nun also neu dabei in diesem Kontrollgremium; sowie Katja Wittfoth. Rau wirkt auf mich sehr ruhig und zurückhaltend, Katja kenne ich von früher aus Wolfenbüttel – ihr traue ich eher zu, den Vorstandsheinis mal die Meinung zu geigen. Aber wir werden sehen.

 

Quo vadis, Eintracht?

Ich gehöre ja der Fraktion an, die nichts davon hält, einen für diesen unfassbaren Niedergang Verantwortlichen nach dem anderen zu rasieren – ohne Alternativen bereitstehen zu haben. Allein seit Marcs Rausschmiss vor dreieinhalb Monaten ist weit und breit kein neuer „Manager“ in Sicht. Und wenn Ebel nun seinen Abschied als Präsident ankündigt, so ist das nur richtig und konsequent – aber wer soll den Job denn zukünftig machen? Wahrscheinlich sollten sich die 30 Unternehmen und Privartpersonen, die in den letzten Jahren immer wieder Millionen in die Profimannschaft geblasen haben, zusammensetzen, und einen aus ihrer Mitte dafür vorschlagen. Egal, am Ende sind wir alle gefordert, die handelnden Akteure zukünftig genauer zu beobachten und auf Fehlentwicklungen und Gefahren hinzuweisen. Vielleicht muss ich doch richtiges Mitglied werden …

 

Traumelf

Heute, am Match-Day, gehe ich am Morgen erstmal ganz vorsichtig zum Edeka in den BraWoPark, meine Bandscheiben-Belastungsgrenzen prüfen. Am Eingang begrüßt mich ein blau-gelber Adventskalender: „Frohe Weihnachten“ – wie bitte soll das denn noch was werden? Beim letzten Heimspiel gegen Aalen wurde wieder überdeutlich, dass der Kader komplett untauglich zusammengestellt ist. Sie führen 10 Minuten vor Schluss 2:1 – und schaffen es nicht, dem Gegner klarzumachen, dass die drei Punkte hier bleiben. Da stehste in Block 6 und verstehst gar nichts mehr. Mein Ex-Kollege Lukas hatte mir unter der Woche den Link zu seinem Projekt „Traumelf“ geschickt, wo neben anderen Dennis Kruppke und Dirk Weetendorf ihre persönliche Traumelf vorstellen dürfen. Dieser Ausflug in die Vergangenheit tat mir sehr weh, denn im Moment gibt es keinen einzigen Spieler, der mich nachhaltig beeindruckt – im Gegenteil.

 

Schmerzen 1

Das Messer hinten in der rechten Schulter ist verlässlich da, egal. Zum Frühstück gibt’s die erste Ibu 600, und ich gehe schon um 11.30 Uhr ganz langsam los. Heute ist Stiftungs-Spieltag, also müsste die Eintracht Braunschweig Stiftung doch irgendwo sichtbar und aktiv sein. Außerdem wird nach dem Spiel hinter dem Fanhaus ein Fan-Weihnachtsmarkt realisiert, und die Spieler werden in einem von der „AG Trikot“ des FanRates entworfenen Sondertrikot spielen. Genug zu schauen und zu erleben gibt es also vor Spielbeginn. In der Strapazenbahn frage ich mich angesichts meiner tauben rechten Hand allerdings mehrmals, ob ich nicht aussteigen und umkehren sollte …

Abnutzungserscheinungen – nicht bei den Fans

Bei allem Alarm gerade um unsere Eintracht – die Fans bleiben unerschütterlich in ihrer Identifikation mit der Eintracht. Gegenüber von der Shell-Tanke ist Braunschweigs bekanntester Eintracht-Balkon dekoriert wie immer, und in der Rheingoldstraße hat der „Fanclub MagniLöwen“ auch wie immer seinen VW-Bus platziert und glüht an der geöffneten Heckklappe schon mal sanft vor. Hinterm FanHaus ist ebenfalls schon was los. Der Aufbau für den Weihnachtsmarkt läuft, und pünktlich um 17.00 Uhr wird auch die Sau am Spieß verzehrfertig durchgebraten sein. Bei Micha am FanRat-Wagen könnte ich mir noch einen Tischkalender kaufen – nee, dafür ist kein Platz in der Jacke.

Schmerzen 2

Im Stadion selbst ist es wieder ähnlich luftig wie letzte Woche – der Zuschauerschnitt sinkt langsam. Ursache dafür ist natürlich der sportliche Niedergang – heute aber auch Wetter und Weihnachtseinkäufe, denke ich. Oben im Block sind die Kollegen von den „Hildesheimer Löwen“ bereits unter ihrem Banner versammelt – einer tatsächlich nur mit Sweatshirt und kurzer Hose bekleidet. Hallelujah, der hat gewonnen heute. Beim Fotografieren dieses tollkühnen Burschen fällt mir fast das Smartphone aus der tauben rechten Flosse. Das Messerpieken ist auch wieder da. Ich bespreche mit Volker, Jens, Günter und Micha kurz die Aufstellung – natürlich ist Pfitze in der Startelf. Der hätte sich die drei Punkte letzten Samstag nicht mehr nehmen lassen, sind wir uns einig. Aber ob er heute was bewirken kann gegen den Tabellen-Fünften?

 

Ab nach Hause

Zehn Minuten später aber sitze ich in der Strapazenbahn und fahre nach Hause – das macht heute keinen Sinn. Die Jungs haben zwar den Kopf geschüttelt, aber auch Verständnis gezeigt – Abnutzungserscheinungen köperlicher Art also bei Malte … Der Wille war da, allein ich sehe den Sinn nicht so recht. Daheim lockt das Sofa, die nächste Ibu 600 und die entlastende Halskrause … Das ist auch mal ein Erlebnis, 30 Minuten vor Anpfiff annähernd alleine in der Linie 1 zu sitzen und das auch bis zur Campestraßen-Haltestelle zu bleiben. Um 13.50 Uhr bin ich daheim, das passt. TV an, Telekom Sport gesucht – alles gut. Hinten eine Dreierkette also, davor Pfitze – das passt auch. Und die identitätsstiftende Choreo der Ultras für Jürgen und Sigrid Moll – sehr bewegend. Das Sondertrikot: schick, auch identitätsstiftend – aber irgendwie ist gerade keine gute Zeit für Erinnerungstrikot-Käufe …

Malte Schumacher

Wenn du unten stehst ...

Aufmunternde Genesungswünsche von vielen Block-6-Kollegen trudeln per WhatsApp bei mir auf dem Sofa ein. Blöd nur, dass das bei mir sich gerade einstellende gute Grundgefühl nach drei Minuten im Eimer ist: Lukas Kruse fällt im Fünfer um wie eine Bahnschranke und Sohm kann für Halle ziemlich leicht das 0:1 machen, in die kurze Ecke. Kruse bekommt bei seinem Umfall wohl das Knie von Nkansah an den Kopf und muss ausgewechselt werden – Mello kommt also. Der Mello, bei dem ich mich anlässlich seiner Abstöße und anderen Spieleröffnungen immer frage, wer ihm wohl eingeredet hat, Torwart werden zu müssen. Ein Grund mehr, die nächste Schmerztabelette einzuwerfen. Der Telekom-Kommentator ist messerscharf in seinen Statements: „Wenn man unten steht, kriegt man gleich zu Spielbeginn so ein Tor“, sagt er …

 

Fußball geht anders

Ich döse vor mich hin und habe den Eindruck, dass die Eintracht auch heute nichts reißen wird. Dabei ist Halle nicht sonderlich stark – wir aber kriegen überhaupt keine gefährlichen Offensiv-Aktionen inszeniert und abgeschlossen. Einige O-Töne des Telekom-Kommentators: „Eine Spielidee der Eintracht ist nicht zu erkennen, die Blau-Gelben wirken wie paralysiert durch das Gegentor.“ … „Halle ist präsent, Braunschweig nicht.“… 55. Minute: „Wann kommt das Aufbäumen der Löwen?“… 79. Minute: „Respekt, Braunschweig wehrt sich nun und nähert sich dem gegnerischen Tor an.“ … Der macht mich fertig, hat aber recht. In der 82. Minute köpft Hofmann an die Latte – immerhin. In der 87. gibt’s dann einen Elfmeter für Halle – der ehemalige Braunschweiger Fetsch aber vergibt, oder besser: Mello straft mich Lügen und zeigt, dass er eben doch was kann im Tor, zumindest auf der Linie, denn er hält den Ball. Fünf Minuten Nachspielzeit werden signalisiert, bringen uns aber auch nichts. In der 94. bringt’s der Kommentator erneut auf den Punkt: „Fußball geht anders!“

 

Magerquark

Irgendwann ist dann Schluss: wieder verloren. Vier Liga-Heimsiege gab’s im gesamten Jahr 2018 an der Hamburger Straße zu erleben. Darunter einen gegen Duisburg im März (noch als Zweitligist) und einen gegen Jena im September – das waren zwei rare Feiererlebnisse für uns. Der Rest war Magerquark. Was soll nun bloß werden? Zwei Auswärtsspiele folgen noch in 2018, in Cottbus und in Karlsruhe. Am 27. Januar 2019 dann wieder das nächte Heimspiel gegen Rostock. Mit fünf neuen Granaten im Kader? Wer soll das sein? Wer soll das bezahlen? Wer soll freiwillig auf einem sinkenden Schiff anheuern? Alter Schwede, ich bin ratlos.

 

Wunschzettel

Ich nasche noch eine Ibu-600-Praline und fantasiere meinen Weihnachtswunschzettel zusammen: Die Bayern oder Chelsea kaufen uns als Solidaritätsaktion sieben Spieler unserer Wahl für 45 Millionen Euro ab. Danach dürfen wir uns mit einem Rabatt von 95 Prozent bei allen deutschen und spanischen Erstligisten sowie Boca Juniors mit neuen Spielern eindecken, wobei deren Gehälter über einen DFB-Erlass von Martin Kind persönlich übernommen werden (müssen). Und dann wird alles wieder gut in 2019, Meister Proper macht das schon …
 

Kay Rohn

Gelebte Identität

Ich komme direkt zum Spiel. Überall sind freie Plätze zu sehen. Nur die Südkurve ist dicht besetzt. Und unübersehbar eine wunderschöne Choreo zu Jürgen Moll und seiner Frau. Respekt den Organisatoren, hier wird die Identität des Vereins zusammengehalten. Ein Zeichen an alle Zuschauer, Fans, Mitglieder, Spieler und Funktionsträger. Für den anderen einstehen; „Das Leben ist endlich, ewig die Erinnerung.“ Das ist nicht Retrosucht. Das ist ein Stück gelebte Identität. Ich hoffe, die Choreo wurde den Spielern und Trainern erklärt.

Kay Rohn

Ein Pfitze gegen den Rest der Welt

Etwas hilflos wirkt Andre Schubert schon. Er scheint immer noch auf der Suche nach einer Lösung zu sein, diese Mannschaft auf einen erfolgreichen Weg zu bringen. Er muss immer wieder etwas Neues ausprobieren, spielt mit Bulut, spielt ohne Bulut. Nyman scheint gesetzt, während unser Stürmer mit den meisten Torabschlüssen nicht von Beginn an zum Einsatz kommt. Ja und Pfitze, ein wirkliches Vorbild an Kampfgeist und Entschlossenheit, wird aus der „Versenkung“ geholt. Im Moment eine Säule des Vereins, gelebte Identität. Aber, nach Plan sieht das nicht aus. Vielleicht ist im Moment „auf dem Platz“ gar nicht so wichtig. Vielleicht ist es viel wichtiger, welche Weichen im Hintergrund gestellt werden.

 

Fantrikot

Auch das darf nicht unerwähnt bleiben. Vier Fans und ein Fanbetreuer durften ein Sondertrikot für diesen Spieltag gestalten. Ein Trikot mit Zitaten: Längsstreifen und Schnürkragen im Traditionslook. In der Zusammenstellung mit der Choreo das würdige Abbild eines Traditionsvereins. Jetzt brauchen wir nur noch die Projektion in die Zukunft.

 

Hinter den Kulissen

Man spürt es nach der Jahreshauptversammlung; die Fans fühlen sich nicht ernst genommen, sie wollen mehr Mitbestimmung, sie haben Angst um ihren Verein. Es gibt kein Miteinander. Das müssen die handelnden Akteure erst einmal wahrnehmen und nicht von sich weisen. In Krisen- oder Risikozuständen ist das Wichtigste: eine offene und transparente Kommunikation. Es sollten alle Formate der Kommunikation überprüft werden. Es gehört aber auch ein entscheidungsfreudiges Führungsgremium dazu und wir kommen jetzt in eine Situation, in der diese Führung  jetzt erst wieder neu gefunden werden muss. Präsident und Geschäftsführer werden aussteigen. Gefragt ist eine Führungsmannschaft, die ein klares Ziel vor Augen hat und dies auch entschlossen umsetzt. Spieler, die in der jetzigen Situation bei Eintracht unter Vertrag stehen, sind verunsichert bis orientierungslos. Die Quittung sehen wir an jedem Spieltag. Es ist eben nicht nur das Training unter der Woche auf dem Platz, es ist auch die Wahrnehmung und Verarbeitung des Umfeldes.

 

Der Weg 

Wo ist der Ausweg aus diesem Dilemma? Zuerst einmal kühlen Kopf bewahren, klare Szenarien für 3. und 4. Liga erarbeiten. Einen strukturierten strategischen Entwicklungsprozess aufsetzen und langfristige Ziele auf kurzfristige Maßnahmen ableiten. Das heißt, ein strategisches, also geplantes und kontrolliertes Gedankengebäude aufstellen und dann entschlossen dieses abzuarbeiten. Welche sportlichen Ziele haben wir? Wie arbeiten wir an einer transparenten Kommunikation? Wie können Fans und Funktion förderlich zusammenarbeiten? Welche wirtschaftlichen Ziele haben wir? Für was stehen wir in Braunschweig? Dies wären einzelne meiner strategischen Zielfelder für Eintracht Braunschweig 2025. Lasst uns anfangen, nehmen wir die Spieler und Trainer mit, nehmen wir die Verwaltung mit und machen uns auf den Weg.

 

Ach ja, das Spiel

Farbe war diesmal nur in der Luft. Gefühlt haben wir den KO nach drei Minuten bekommen. Dieses Tor muss einfach verhindert werden. Danach läuft ein bekanntes Muster der Verunsicherung ab und an ein konstruktives Spiel ist nicht zu denken. 0:1 im Kopf und das Selbstbewusstsein ist verschwunden. Der Kader muss stark gemacht werden. Wie soll das gehen? Die Mannschaft und jeder einzelne muss sich kleine Ziele setzen, die erreicht werden sollen. Nur durch solche Erfolgserlebnisse können sie wieder Selbstbewusstsein erlangen. Ein Höhepunkt, nicht unbedingt der angenehmste Höhepunkt in der fünfzigsten Minute. Pyros im Hallenblock. Die rote Nebelwand zieht über die Tribüne, ich verziehe mich kurz in die Innenräume. In Erinnerung kommt mir dabei, dass es zur Zeit Tests mit „kalten Pyros“ gibt. Die Erfindung kommt aus Dänemark. Die Pyros kommen mit relativ geringer Temperatur aus und sondern kaum Rauch ab. Vielleicht eine Alternative. Vertreter aus der Bundesliga und der DFL haben sich Tests bereits angeschaut.

 

Nachhauseweg

Am Parkplatz aufgereiht berittene Polizei. Brauchen wir das wirklich? Nachdenklich, wie nach fast allen Spielen aus dem letzten Jahr, fahre ich nach Hause und denke weiter nach vorne.

Mir ist aufgefallen: Warum wird vom Trainer nicht einmal das Ziel ausgegeben, zu Null zu spielen?

Kay Rohn