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Zehn Jahre Deutsche Meisterschaft beim VfL Wolfsburg
Interview mit Meisterspieler Marcel Schäfer

Am 23. Mai 2009, um 17:19 Uhr: Schlusspfiff in der Volkswagen Arena. Wir sind Deutscher Meister. Absolute Freude und totale Ungläubigkeit zugleich. Noch immer erzählt meine Mutter davon, wie fassungslos im positiven Sinne mein Mann, mein Bruder, meine Freundin, mein Vater (und somit meine ganze Riege, mit der ich eine Dauerkarte besitze) in diesem Moment auf den Rasen starrten. Dass wir in Wolfsburg einmal eine deutsche Meisterschaft feiern, hätten wir uns alle nicht erträumt. Und so unglaublich und wunderschön ist es noch heute. Nun feiern wir in diesem Jahr schon das zehnjährige Meisterschaftsjubiläum. Mit dem damaligen Meisterspieler und Publikumsliebling Marcel Schäfer, heute als Sportdirektor beim VfL tätig, konnte ich über die Saison sprechen und mich an viele unvergessene Momente zurückerinnern.

Marike Bebnowski
Bloggerin Marike Bebnowski sprach mit Marcel Schäfer über die Meisterschaft des VfL.

Lieber Marcel, was glaubtest du, sei mit dem VfL Wolfsburg möglich, als du vor zwölf Jahren deinen Vertrag in Wolfsburg unterschrieben hast?

Ich kannte die Stadt Wolfsburg damals ehrlich gesagt gar nicht. Entscheidend war für mich, in der ersten Liga spielen zu dürfen – das stand über allem. Felix Magath und seine Art kamen mir sehr entgegen, denn er legte großen Wert auf junge, hungrige Spieler mit einer guten Physis. Wolfsburg ist eine Stadt, die man erst einmal kennenlernen muss, um sie zu schätzen und zu lieben, das habe ich die vergangenen Jahre erfahren. Familiär, schön grün – Wolfsburg ist meine Heimat geworden.

An die Meisterschaft hast du also erstmal noch gar nicht gedacht. Was war in der Meistersaison das beste Spiel für dich?

Ganz klar, das Spiel gegen Bayern. Und das Tor von Grafite mit der Hacke zum 5:1. Ich glaube es ist das Spiel der Wolfsburger Sportgeschichte. Es war einmalig, einen Gegner wie Bayern derart zu schlagen.

Welche weiteren Spiele wirst du nie vergessen?

In der vorherigen Saison spielten wir am 34. Spieltag in Dortmund, wo wir überraschend noch in den UEFA-Cup einzogen. 6.000 Wolfsburger Fans waren dabei und die Stimmung war unglaublich. Es ist nicht so oft der Fall, dass man von der Südtribüne nichts hört, sondern nur die Gästefans. Vielleicht war dieser Tag schon ein Ausblick auf die darauffolgende Saison.

Daniel Schmidt
Der Lehrer und sein Schüler - Felix Magath und Marcel Schäfer.

Das Erfolgsrezept: Teamgeist, Zusammenhalt und eine starke Offensive

Wann hast du das erste Mal an die Meisterschaft geglaubt?

Das wuchs über die Saison. In der Winterpause lagen wir auf Platz neun, die Distanz war groß. Als Mannschaft wollten wir die internationalen Ränge erreichen. Magath hingegen sagte, dass er mit uns Meister werden möchte. In der Rückrunde entwickelten wir ein riesengroßes Selbstvertrauen. Das Spiel gegen Bayern war dann das Schlüsselerlebnis und wir merkten, dass etwas Außergewöhnliches möglich ist. Vier Spieltage vor Schluss folgte dann die Niederlage in Stuttgart und wir schworen uns, uns diese einmalige Gelegenheit nicht mehr entgehen zu lassen. Das Ganze war für uns eine Chance, ganz ohne Druck, deshalb waren die letzten drei Spiele sehr fokussiert.

Magath wollte also Meister werden. War das der ausschlaggebende Antrieb?

Ja. Es bedarf Personen, die auch mal Ziele äußern, die zunächst unrealistisch scheinen. Es kann natürlich passieren, dass diese nicht erreicht werden. Bei uns hat es geklappt, weil wir voller Selbstvertrauen waren. Und mit Grafite, Dzeko und Misimovic ein überragendes Offensiv-Trio hatten.

Was war neben dem Selbstvertrauen und dem Offensiv-Trio ein Erfolgsfaktor?

Definitiv unsere überragende Physis und der Teamgeist. Wir waren damals viel gemeinsam unterwegs, haben auch mal über die Stränge geschlagen. Irgendwann sind wir dann auf einer Erfolgswelle geschwommen und Magath hatte eine junge Mannschaft geformt, die seinem Weg und seiner Art bedingungslos gefolgt ist. Wir hatten alle dasselbe Ziel.

Daniel Schmidt
Autogramme von Grafite sind auch nach zehn Jahren noch sehr gefragt.

Absolute Euphorie in der Region und 100.000 feiernde Menschen in der Stadt

Wie hast du Wolfsburg und Region im Meisterjahr erlebt?

Das war pure Euphorie. Wir galten immer als unscheinbare graue Maus und wir merkten alle, wie sehr wir durch unseren Fußball nach und nach die Sympathien gewannen. Wie die Mannschaft selbst, wuchsen auch die Fans zusammen. Das war eine Einheit. Niemand ging damals ins Stadion mit dem Gefühl verlieren zu können, sondern man fragte sich: Wer schießt die Tore und wie hoch gewinnen wir?

23. Mai 2009. Welches Gefühl hattest du vor dem Anpfiff?

Als wir auf den Rasen kamen, war ich unglaublich fokussiert auf unser Ziel und war der Überzeugung, dass wir das auch erreichen. Die Fans hatten eine riesige Choreo gemacht und trugen uns mit ihrer Unterstützung.

Und unmittelbar nach Spielende?

Beim Abpfiff blieb mir zugegebenermaßen erstmal die Luft weg – das lag daran, dass ich mit Christian Gentner unter einer Riesentraube von Fans lag, so um die 20 Leute, da war ich kurz etwas unruhig.

Was war das für ein Gefühl, als du endlich die Schale in den Händen halten konntest?

Das war unbeschreiblich – das habe ich erst im Nachgang richtig realisiert. Da konnte ich begreifen und beurteilen, wie einzigartig es doch war, die Bayern hinter sich zu lassen. Das ist unbeschreiblich und es ging zu schnell vorüber.

Nach dem Spiel hast du gemeinsam mit über 100.000 Fans gefeiert und bist mit dem Autokorso durch die Stadt gefahren …

Da waren mehr Menschen auf den Beinen als Wolfsburg Einwohnerinnen und Einwohner hat. Schon auf dem Weg ins Stadion hatte ich ein gutes Gefühl, alles war im Aufbruch. An den Bushaltestellen, auf dem Weg von Haus Rhode, wo wir schliefen, bis zum Stadion war alles grün-weiß. Das hat mich überglücklich gemacht und uns allen enormes Selbstvertrauen gegeben. Wir können stolz sein auf die Entwicklung unserer Stadt. Ein nicht ganz so schöner Moment war dann, als im Autokorso zum Rathaus das Bier fehlte. Also haben Christian Gentner und ich einen Stopp an der Tankstelle gemacht. Ich kann gar nicht sagen, wie viele Menschen ich an diesem Tag gedrückt habe, gefühlt waren es alle 100.000.

Daniel Schmidt
Die Nordkurve feiert ihre damaligen Meisterhelden.

In Wolfsburg eine grüne und familiäre Heimat gefunden

Was hat die Meisterschaft in Bezug auf deine persönliche Verbindung zur Region und zum VfL beigetragen?

Wahnsinnig viel. Aber auch andere Momente wie der Pokalsieg, dass ich Nationalspieler wurde, Kapitän war. Es gab auch durchaus schlechte Zeiten – die Krisen, der Abstiegskampf. Alle Facetten, die ein Fußballprofi miterleben kann, habe ich hier in Wolfsburg erleben dürfen. In schwierige Phasen, als ich kein Stammspieler mehr war, gab es eine unglaubliche Unterstützung der Fans. Daher wollte ich den VfL auch nie verlassen. Nur mit dem Wissen, wieder zurückzukehren, war der Wechsel in die USA denkbar.

Wann ist Wolfsburg vollends deine Heimat geworden?

Das war, als meine Familie und ich in den USA waren. Natürlich ist es toll in Florida zu leben. Aber dort haben wir richtig zu schätzen gelernt, was uns Wolfsburg bietet und bedeutet. Daher waren wir auch sehr glücklich, als es wieder zurückging, sogar eher als geplant.

Warum ist Wolfsburg so lebenswert für dich und deine Familie?

Wolfsburg ist grün, Wolfsburg ist familiär. Bezogen auf die Größe der Stadt sind die Freizeitangebote überragend. VfL und Volkswagen investieren viel in Bildung. Ich habe ein gutes Gefühl, dass meine drei Kinder in diesem Umfeld aufwachsen. Wolfsburg bietet kurze Wege und einfach eine hohe Lebensqualität. Wir haben hier viele nette Menschen kennengelernt, Freunde gefunden und unser vertrautes Umfeld. Und meine Kinder sind alle gebürtige Wolfsburger.

Noch einmal ein Blick zurück auf die Meisterschaft. Gibt es eine kuriose Begebenheit, die du uns verraten darfst?

Unvergessen bleibt mit Sicherheit der Aufstieg auf den Berg im Sommertrainingslager, mit dem uns Magath überraschte. Wir hatten erwartet, mit der Gondel auf den Berg zu fahren und dann mussten wir plötzlich laufen. Einige Spieler haben unterwegs vor Erschöpfung die Kühe auf der Weide beschimpft. Grafite ist sogar umgekippt. Und das Lokal, in das wir oben auf dem Berg einkehrten, hat sicher nicht die besten Erinnerungen an uns. Wir haben einfach mit den Händen den Kuchen aus der Vitrine genommen und uns mit Getränken versorgt – obwohl dort keine Selbstbedienung herrschte. Eine Horde Fußballer, die dort einfällt. Das war nicht besonders höflich, aber wir waren so kaputt, dass uns alles egal war. Aber wenn man bedenkt, dass unsere gute Kondition einer der entscheidenden Aspekte auf dem Weg zum Titel war, dann lacht man heute darüber.