Eine Dorfstraße Jörg Scheibe

Die Dorfstraße im Moordorf –
Sechs Kilometer immer geradeaus

Ich stehe am Ortseingang von Neudorf-Platendorf, vier Kilometer nordöstlich von Gifhorn, und schaue die Dorfstraße entlang. Die breite Straße ist etwas erhöht und wird an beiden Seiten von Wassergräben flankiert, über die Brücken zu Häusern führen, die – so weit meine Sicht reicht – in luftigen Abständen auf beiden Straßenseiten stehen. Das Ende der Dorfstraße kann ich nicht sehen. Kein Wunder: Sie ist sechs Kilometer lang, schnurgerade und es gibt keine einzige Kurve. Es ist die längste gerade Dorfstraße in Niedersachsen. Dafür ist Neudorf-Platendorf nicht nur in unserer Region bekannt.

Ohne Auto geht hier nichts

Ohne Auto – oder zumindest Fahrrad – geht hier gar nichts. Fußgänger habe ich bei meinem Besuch nicht gesehen. Die Busverbindung nach Gifhorn ist schlecht, erklärt mir Ortsbürgermeisterin Astrid Schulz: „Das ist vor allem für ältere Menschen ein Problem. Die sind auf die Fahrdienste der Familie oder der Nachbarn angewiesen. Das funktioniert auch ganz gut.“ Jörg Wulfes, der ganz am Dorfanfang wohnt, gewinnt der Dorflage ironisch auch Positives ab: „Wenn ich die ganze Straße abfahre, dann weiß ich sofort, was im Dorf los ist, wer beispielsweise zu Hause ist“. Die breite und übersichtliche Straße verführe Autofahrer zum Schnellfahren, an Tempo 50 hielten sich viele nicht, erzählt Astrid Schulz. Einen Blitzer gibt es bisher nicht. Bei gelegentlichen Radarkontrollen der Polizei wurden viele Fahrer erwischt – auch Einheimische.

Acht Vereine, drei Chöre und zwei Kirchen

Neudorf-Platendorf ist ein großes Dorf mit 2.700 Einwohnern und gehört zur Samtgemeinde Sassenburg. Es ist ansonsten ein ganz normales Dorf. „Wir haben eine insgesamt gute Infrastruktur und ein lebendiges Gemeindeleben“, meint Astrid Schulz und zählt auf: Acht Vereine, drei Chöre, zwei Kirchen, eine Grundschule, ein Kindergarten, eine Mehrzweckhalle und sogar ein Jugendcafé. Es gibt mehrere Gewerbebetriebe und Handwerker – immerhin noch eine Gaststätte und sogar eine große Schäferei nebst Hofladen. Und es gibt, etwas abseits, einen Bahnhof an der Strecke Gifhorn- Uelzen. Ein Vorteil bestehe darin, so die Ortsbürgermeisterin, dass alle wichtigen Einrichtungen zentral in der Ortsmitte, also ungefähr bei Kilometer drei, liegen.

Bis dahin hat es auch die Deutsche Telekom mit einem Glasfasernetz für das schnelle Internet geschafft. Dahinter wird es allerdings langsamer. Die Gemeinde will nun die zweite Hälfte in Eigeninitiative ausbauen. Ein großer Nachteil: Es gibt im Ort keinen Supermarkt und keinen Bäcker oder Schlachter mehr. Da muss man in den Nachbarort Triangel fahren, der sich nahtlos in Richtung Gifhorn anschließt. Im ungünstigsten Fall muss man sechs Kilometer fahren, um Brötchen zu holen. Astrid Schulz. „Immerhin kommen zweimal die Woche Fahrgeschäfte und verkaufen an der Straße Back- oder Wurstwaren“.

 

Ein Straßendorf mit ländlichem Charakter

Neudorf-Platendorf sieht von oben so aus, als sei es auf dem Reißbrett entworfen worden. Und genauso war es auch vor mehr als 200 Jahren. Ende des 18 Jahrhunderts wurden die beiden Kolonien Neu Dorf und Platendorf gegründet, um das Große Moor urbar zu machen und Torf abzubauen. Es wurden damals Kanäle und Gräben zur Entwässerung des Moores angelegt und zwei Straßendämme schnurgerade ins Moor gebaut, an denen die Neusiedler ihre Häuser bauten. Jeder bekam dahinter ein Stück Land zum Torfabbau. Einer der Straßendämme ist die heutige Dorfstraße, Inzwischen ist das Dorf breiter geworden – an einigen Stellen wurden an Stichstraßen im Hinterland der Dorfstraße kleine Siedlungen mit neuen Häusern gebaut. „Das Modell eines Straßendorfes und der ländliche Charakter sind aber erhalten geblieben“, betont Astrid Schulz. Die meisten Menschen, die heute im Dorf wohnen, sind Pendler und arbeiten häufig in Wolfsburg und Gifhorn bei VW oder Zulieferbetrieben.

 

Heinrich Wulfes ist der deutsche Johnny Cash

Noch heute wird Neudorf-Platendorf als „Moordorf“ bezeichnet. Der Ort wurde viele Jahrzehnte von der Torfindustrie geprägt. In der Blütezeit vor 50 Jahren gab es im Großen Moor 14 große Torfwerke. Heute gibt es im Dorf nur noch einen kleinen Betrieb. Das Große Moor ist weitgehend abgetorft, große Teile sind heute Naturschutzgebiet. An einigen Stellen versucht der NABU-Kreisverband Gifhorn, das Moor wieder zu renaturieren, etwa durch die Wiedernässung von Flächen. Moore sind nämlich höchst leistungsfähige CO2 Speicher und damit ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz.

Im Dorf leben noch viele Nachfahren einstiger Gründerfamilien. Beispielsweise die Wulfes. Der bekannteste Einwohner ist Heinrich Wulfes. Er ist als Hotelfachmann, Reiseleiter und Oldtimer- Händler viel in der Welt herumgekommen und spricht sieben Sprachen. Bekannt wurde er als Country-Musiker unter seinem Künstlernamen Heinrich Doc Wolf. Wegen seiner Bass-Stimme wird er mit der amerikanischen Country-Legende Johnny Cash verglichen. Auf Konzerten singt er unter anderen auch dessen große Songs. Wulfes' Markenzeichen: Ein roter Cadillac, Baujahr 1972, den einst Johnny Cash gefahren war und den Wulfes auf eBay ersteigert hat.

Ein altes Torfwerk und ein Moormuseum

Warum ist einer, der so viel herumgekommen ist, seinem Geburtsort treu geblieben, frage ich ihn. Seine Antwort ist einfach und klar: „Das ist meine Heimat, hier war immer mein Lebensmittelpunkt“.  Mit seinem Vater hat er 15 Jahre lang eines der letzten Torfwerke im Ort betrieben. Auch die Familie von Jörg Wulfes, der nicht direkt mit dem Musiker verwandt ist, hatte einst ein Torfwerk betrieben. Auf dem Gelände am nördlichen Ende des Dorfes soll nun ein Moormuseum entstehen, erzählt er mir.

Wulfes ist eines von 29 Mitgliedern eines rührigen Fördervereins, der das Museum mit viel Engagement und Unterstützung der Gemeinde voranbringt. Wulfes hat eine besondere Bindung zu dem Projekt: „Ich war schon als Kind oft auf diesem Gelände und habe später auch hier gearbeitet“. Die Vereinsmitglieder haben einige Bagger-, Räum- und Stechmaschinen vor dem Verfall gerettet. Geplant ist ein Rundgang auf dem Gelände, bei dem die Entwicklung des Torfabbaus vom frühen Hand-Stich bis zu großen Abbaumaschinen demonstriert werden soll. Außerdem ist ein Ausstellunggebäude geplant, eine Torfbahn soll das Gelände umrunden.

Straßenrekorde in unserer Region

Neudorf-Platendorf ist übrigens nicht der einzige Ort in unserer Region, der einen Straßenrekord hält. Die steilste Straße gibt es in St. Andreasberg im Harz – die Herrenstraße mit einer Steigung von 22 Prozent. Der höchste Straßenpunkt im Lande wird mit 820 Metern am Stieglitzeck auf der Straße zwischen Sonnenberg und Clausthal-Zellerfeld erreicht. Und das Torfhaus ist mit 807 Metern die höchste Straßensiedlung.