Der rekonstruierte Turm mit dem aufgeschütteten Wall. Meike Buck

Eine Königspfalz im Dornröschenschlaf

Wer an mittelalterliche Befestigungsbauten denkt, hat meist trutzige Burgen mit hohen Türmen und wehrhaften Mauern vor Augen. Davon ist bei der Königspfalz Werla (bei Schladen im Landkreis Wolfenbüttel), nicht viel zu sehen. Ich bin mit Marco Failla, Kreisheimatpfleger des Landkreises Wolfenbüttel, verabredet. Er will mir die Anlage zeigen und mir ihre Geschichte erzählen.

Unterkunft für Könige und Kaiser

Die Sonne scheint, es ist einer der ersten frühlingshaft-warmen Tage in diesem Jahr. Perfektes Wetter, um einen Ausflug zu unternehmen. Den Parkplatz zur Werla finde ich dank der Beschilderung an der Landstraße zwischen Werlaburgdorf und Schladen leicht. Doch zu sehen ist von der mittelalterlichen Anlage noch nichts.

Erst einmal gibt es eine Begriffserklärung von Marco Failla: die Werla ist eine Königspfalz, eine befestigte Palastanlage, auf der im Mittelalter die Mächtigen – in diesem Fall sogar Könige und Kaiser – Hof hielten. Die Herrscher regierten ihr Territorium nicht von einer festen Hauptstadt aus, sondern mussten „vor Ort“ den persönlichen Kontakt zu ihren Gefolgsleuten halten. Dazu errichteten sie ein Netz von Stützpunkten, den „Pfalzen“, zwischen denen sie hin- und herreisten. Hier standen repräsentative Gebäude, in denen sie dann die Fürsten der Umgebung zusammenriefen, Rat hielten, Recht sprachen und Urkunden ausstellten. Zudem gab es in einer Pfalz Wirtschaftsgebäude, um den Herrscher und sein großes Gefolge bei dem Aufenthalt zu versorgen und sie bot begrenzten Schutz vor Angreifern. In diesem Zusammenhang wird die Werla auch zum ersten Mal erwähnt, Rex autem erat in presidio urbis quae dicitur Werlaon, schrieb der Chronist Widukind von Corvey in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts in seiner „Sachsengeschichte“. Der König (gemeint ist Heinrich I.) aber befand sich in der festen Burg Werla.

 

Eine Pfalz im Dornröschenschlaf

Wir laufen einen geschotterten Weg entlang und jetzt entdecke ich hinter dem Gebüsch helles Mauerwerk. Ein kleiner Turm, ein kurzes Mauerstück, dazu ein aufgeschütteter Erdwall. Auf mittlerweile fast 100 Jahre Erforschungsgeschichte kann die Pfalz Werla zurückblicken. Damit ist sie ein hervorragendes Beispiel einer archäologisch intensiv untersuchten Repräsentationsanlage des frühen und hohen Mittelalters. Trotzdem ruhte die Anlage auf dem Okersporn bis in die späten 2000er-Jahre in einem Dornröschenschlaf. Auch vor Ort war lange nichts zu erkennen von der bedeutenden Anlage – außer einem zugewachsenen Gedenkstein. Denn die Gebäude und die Befestigungsanlagen waren abgetragen worden oder mit der Zeit verfallen.

Drei große archäologische Grabungskampagnen in den 1930er-Jahren, zwischen 1957 und 1964 und zuletzt von 2007 bis 2016, förderten schließlich umfassende Erkenntnisse zutage. Auch Marco Failla hat als Student mitgeholfen und kann aus eigener Erfahrung berichten. Archäologen müssen dabei auf kleinste Details achten, eine Scherbe, eine Verfärbung im Boden, alles kann Hinweise geben, die dann das große Bild ergänzen.

Mehrere Bauphasen …

An einer großen Schautafel bleiben wir stehen. Anhand der Darstellung erklärt mir Marco Failla die Baugeschichte. Die Anlage entstand eventuell bereits in karolingischer Zeit, als fast kreisrunde Anlage auf einer Hochebene, die steil zur Oker abfällt. Befestigt war sie mit einem Wall und einem vorgelagerten Graben. „Wie genau dieser Wirtschaftshof ausgesehen hat, wissen wir nicht“, schränkt Marco Failla ein. Spuren sind durch die späteren Umbauten nahezu vollständig zerstört worden. Anfang des 10. Jahrhunderts wurde der Befestigungswall durch eine Mauer ersetzt und durch den Anbau einer blasenförmigen Vorburg nach Norden erweitert. In der Kernburg entstanden nun repräsentative Gebäude – wie ein Palas und eine Kapelle. Später sehe ich, dass die Grundrisse der Gebäude durch niedrige Mauern und in den Boden eingelassene Stahlplatten verdeutlicht werden. So bekomme ich einen Eindruck von ihrer Größe und Beschaffenheit. Für die Sachsen war die Werla wahrscheinlich ein wichtiger politischer Ort, mehrere Könige hielten hier Hof, wie schriftliche Chroniken belegen. Marco Failla berichtet von einer Geschichte, die sich hier im Jahre 1002 zugetragen haben soll. In den Auseinandersetzungen um die Krone des verstorbenen Otto III. drang der unterlegene Ekkehard von Meißen in „das große Haus“ der Werla ein, wo den beiden Schwestern des verstorbenen Königs gerade ein Festmahl aufgetischt worden war. Er griff herzhaft zu – und löste damit einen Eklat aus. Doch bereits im 11. Jahrhundert übernahm Goslar die repräsentative Funktion der Pfalz und die Werla verlor an Bedeutung.

 

… und einige Fragezeichen

Zu Beginn des 12. Jahrhunderts wurde die Fläche der Anlage durch eine zweite Vorburg nahezu verdoppelt, auch sie wurde durch eine Mauer geschützt. Marco Faillas Finger wandert auf der Karte nach links. Auch hier fanden die Archäologen Hinweise auf textil- und metallverarbeitende Handwerker. Mit dem Palas II entstand das größte Gebäude in der Kernburg. Im Jahr 1180 besuchte mit Friedrich Barbarossa zum letzten Mal ein Kaiser die Pfalz. Viele Jahre hatte Heinrich der Löwe den Staufer herausgefordert und die Gefolgschaft verweigert. Nun konnte der Kaiser den welfischen Fürsten endlich in die Knie zwingen. Er forderte im Verlauf der Absetzung Heinrichs des Löwen dessen Anhänger auf, sich ihm auf der Werla zu ergeben. Dass er als Ort dafür die alte Pfalz auswählte, beweist, dass diese trotz der geringeren Bedeutung immer noch eine wichtige symbolische Funktion im kollektiven Gedächtnis der Sachsen bewahrt hatte.

Im 13. Jahrhundert schließlich wurden die meisten repräsentativen Gebäude der Kernburg zumindest teilweise abgerissen, gleichzeitig aber eine weitere Fläche durch einen Wall umgeben und so die Anlage noch einmal deutlich vergrößert. Zur Verdeutlichung beschreibt Marco Failla mit seinem Finger einen großen Kreis auf der Tafel. Ob hier einmal eine Stadt gegründet werden sollte? Doch spätestens im 16. Jahrhundert wurde die Werla aufgegeben und die Bewohner der Anlage zogen in die umliegenden Dörfer.

Und auch wenn die Archäologen hier viel anhand von Grabungen untersucht haben, sind doch noch einige Fragezeichen offen. Gab es vorher schon eine Siedlung an dem Ort? Wie viele Menschen lebten und arbeiteten hier? Warum zogen die Bewohner weg und gaben die Anlage auf?

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Ein Kaiser zu Besuch

Marco Failla klettert auf den aufgeschütteten Erdwall. Ich blinzele gegen die Sonne und lasse den Blick schweifen über die Felder, auf denen sich die ersten grünen Triebe zeigen. Unten im Tal glitzert die Oker in der Sonne. Ich stelle mir vor, wie ein Trupp Reiter gefolgt von mehreren Wagen über die Ebene kommt, bunte Fahnen flattern im Wind, Rüstungen blitzen im Licht. Der Kaiser kommt! „Er könnte durch dieses Tor gekommen sein“, erklärt Marco Failla. Hüfthohe, wiederaufgebaute Mauern verdeutlichen die Lage und die Dimensionen. Ebenfalls wiederaufgebaut wurde ein Turm mit einem Teil einer Befestigungsmauer mit Zinnen. In dem Turmzimmer kann man sogar heiraten – ganz ohne sich vorher mit den Torwächtern auseinandersetzen zu müssen.

Damit es der Kaiser bequem hatte, war der Palas mit einer Warmluftheizung ausgestattet. Auf einer der aufgestellten Tafeln wird das Prinzip erläutert. Zunächst wurde in einem unteririschen Raum ein Feuer entzündet. Nachdem es abgebrannt und der Rauch aus einem Schornstein abgezogen war, wurde die warme Luft aus der aufgeheizten Brennkammer durch ein ausgeklügeltes Röhrensystem in die Räume des Wohnhauses geleitet. Mehrere solcher Tafeln sind auf dem Gelände verteilt; hier können Infos zu den einzelnen Gebäuden nachgelesen werden.

Bedeutende Vergangenheit – und die Zukunft?

Noch bewahrt die Werla einige ihrer Geheimnisse. Die Kernburg ist gut erforscht, weiß Marco Failla, hingegen gibt es bei den Vorburgen noch einige Wissenslücken, die mit weiteren archäologischen Grabungen geschlossen werden könnten.

Zur Expo 2000 entstand die Idee eines Archäologieparks auf dem Gelände der Werla. Davon wurde jedoch nur ein kleiner Teil realisiert, so dass Besucher nur schwer einen Eindruck von Aussehen und Größe der Pfalzanlage bekommen. Zurzeit arbeiten politische Gremien und verschiedene Arbeitskreise an Konzepten, die Werla zu einem attraktiven Ausflugsziel im Landkreis Wolfenbüttel zu entwickeln.

Als die Sonne sich dem Horizont nähert und es allmählich kühler wird, nähern wir uns wieder dem Parkplatz. Von einer Aussichtsplattform aus werfen wir einen letzten Blick auf den Turm. Hier verlief der äußerste Befestigungsring und mir wird klar, wie groß die Anlage tatsächlich gewesen ist. Ich sehe Häuser, aus Stein und aus Holz, große und kleine, dazwischen Menschen, auf einem kleinen Marktplatz geschäftiges Treiben. Oder doch Ruinen, verfallene Gebäude, dazwischen vielleicht ein paar Schafe? Bis zur Realisierung eines neuen touristischen Konzeptes braucht man Fantasie und Vorstellungskraft. Aber auch so lohnt sich ein Besuch. Es war jedenfalls ein interessanter Rundgang und ich freue mich auf den nächsten Ausflug mit Marco Failla.

Meike Buck
Der Archäologische Park ist weitläufig angelegt und verdeutlicht so die Dimensionen der einstigen Pfalz.