Im Stadion brennen Chemnitzer Fans Pyrotechnik ab. Malte Schuhmacher

Stadionfunk - die Eintracht Braunschweig-Kolumne
Psycho-Kiste Eintracht

Am Samstag war der Chemnitzer FC zu Gast im Eintracht-Stadion. Ein Spiel, zwei Perspektiven. Unsere Regionäre Malte Schumacher und Kay Rohn berichten.

Malte Schuhmacher:

Fakten-Check

Tutti, ein Rücken-Sport-Buddy von mir, war der erste am Sonntagabend vor sechs Tagen: Clemens und ich sind gerade irgendwo auf der verflixten A7 auf dem Heimweg vom „Rolling Stone Beach“, einem Musikfestival an der Ostsee, als Tutti mich gegen 17.40 Uhr via WhatsApp fragt: „Wer kommt, hast Du mehr Infos?“. Ich denke zunächst, dass er den Adressaten verwechselt hat – einer Ahnung folgend aber google ich trotzdem und bin schnell im Bilde: Eintracht hat Trainer Flüthmann gefeuert. Clemens und ich haben es sehr genossen, dass das Festival wegen der Länderspiel-Pause mal gar nicht mit Eintracht kollidieren konnte – denkste… Wir schmeißen rasch mögliche Nachfolger im VW-Bus hin und her: Arsène Wenger, Niko Kovac, Benno Möhlmann, Peter Neururer… Die WhatsApp-Kanäle glühen längst – oh man, nichts bleibt Dir erspart als Eintracht-Fan, gar nichts.

Wer ist Marco Antwerpen?

Am Spieltags-Samstag haben der Verein und Peter Vollmann längst Fakten geschaffen: „Antwerpen lässt die Löwen los“ titelt die BZ im Sport-Teil. Marco Antwerpen, bis zum Sommer bei Preußen Münster beschäftigt, Platz 8 am Ende mit 15 Siegen, fünf mehr als Eintracht auf Platz 16. Sieht nach einer erwartbaren Peter Vollmann-Drittliga-Lösung aus – ich kann den Neuen noch nicht einschätzen. Fakt ist, dass die letzten Spiele fürchterlich anzuschauen waren. Fakt ist auch, dass der Trainer-Novize Flüthmann gerade in Mittelfeld und Angriff für meinen Geschmack viel zu oft Spieler und Ausrichtung gewechselt hat – in den letzten Matches ohne sichtbaren und zählbaren Erfolg.

Time for a change

Und anders als vielleicht noch in der Zeit unter Marc Arnold ist es eben jetzt Peter Vollmanns Aufgabe, einen Abwärtstrend zu erkennen, sowie Handlungs-Optionen zu erabeiten und dann Lösungen vorzuschlagen. Und genauso folgerichtig es war, dem Nicht-Abstiegs-Helden Christian Flüthmann im zarten Alter von 37 Jahren seinen ersten Cheftrainer-Posten anzubieten, genauso folgerichtig ist viereinhalb Monate später auch die Erkenntnis, dass dieser Schritt für ihn wohl viel zu früh kam – und dass wir leider mal wieder den Trainer wechseln müssen…

„Gras fressen!“

In der Strapazenbahn ist sich die Fan-Gruppe neben mir einig: „Die Jungs müssen heute Gras fressen!“. Und sie haben recht, die Mannschaft hat deutlich wahrnehmbar nicht das gezeigt in den letzten Spielen, was sie eigentlich können müsste. Kampfbereitschaft und Einsatz waren eher so lala. Die Ursachen dafür zu benennen, fällt mir schwer – am Ende bist Du als Fan einfach zu weit weg davon. Und der ganze Unsinn, der in den sozialen Medien dazu verquirlt wird, hilft mir dabei auch genau gar nicht weiter.

Stadion-Novize Carsten

Heute schlendere ich nochmal zur „Wahren Liebe“, ich will mal wieder die dort angebotene Bratwurst testen. Auf dem Weg zurück in die Rheingoldstraße treffe ich Catrin und Carsten, ein Geschwister-Paar, das ich aus alten Wolfenbütteler Zeiten kenne. Catrin amüsiert sich über ihren Bruder und lässt mich daran teilhaben: „Malte, stell‘ Dir vor – Carsten ist heute zum ersten Mal in seinem Leben in einem Fußball-Stadion…“ Alter Schwede, für ein wenig verkopft habe ich den Burschen ja immer gehalten -- aber noch nie im Stadion? Was war das bitte für ein Leben bis zum heutigen Tag, Carsten? Ich wünsche ihm gerade deshalb ein prägendes Erlebnis heute…

Angie küssen bringt Glück?!

Vor dem FanRat-Wagen wird heute Ringelpiez mit Anfassen praktiziert – und Didi drückt Angie aus übergroßer Wiedersehens-Freude einen Schmatzer auf die Wange. Ob das Glück bringt, und wir deshalb heute siegen? Wir werden sehen. Angie jedenfalls ist fest davon überzeugt, sie tippt auf ein klares 4:0. Bei uns im Block sind heute zwei neue Gesichter dabei: Inga hat ihre Jungs Paul und Johann mitgebracht. Na herzlich willkommen Ihr Beiden – und auch das sollte verstetigt werden, wenn es beim Siegen hilft…

Aufstellung

Viele Worte werden gar nicht gewechselt im Fanclub über den neuen Trainer – alle erwarten sehnsüchtig die Aufstellung, um den „Wind of Change“ von Marco Antwerpen zu spüren. Hmmm, Kammerbauer und Nehrig im Mittelfeld, Bär, Proschwitz, Koby und Ademi in der Offensive. Danilo Wiebe (den kennt der Trainer ja noch aus Münster) und Pfitze sitzen nur auf der Bank. Nun gut, irgendwas wird er sich dabei gedacht haben. Wir sind uns einig, dass wir es heute halten mit Alfred „Adi“ Preißler (1921 – 2003), der einst sagte: „Grau ist alle Theorie – entscheidend is auf’m Platz“.

Bernd Nehrig

Vor dem Anpfiff aber wollen die Chemnitzer Fans uns noch zeigen, dass sie mit Pyro und Rauchtöpfen rumfummeln können. Mex hatte das schon geahnt, der kennt unsere Pappenheimer… Los geht’s, Anpfiff: Bernd Nehrig versucht von Beginn an, den Laden zu organisieren, das ist deutlich erkennbar. Er geht zurück zwischen die Innenverteidiger und holt sich den Ball – das gab’s auch schon unter dem anderen Glatzkopf zu sehen, André Schubert. Aber in jedem Fall wohltuend, dass Bernd wieder dabei ist. Die Stimmung auf den Rängen ist trotz der eher mauen Zuschauerzahl super – vielleicht sind es 16.500, mehr nicht. Mein Gefühl heute ist gut, und wir singen kräftig mit.

Im Stadion brennen Chemnitzer Fans Pyrotechnik ab. Malte Schuhmacher
Pyros im Chemnitzer Fanblock im Eintracht-Stadion.

Psycho-Kiste

Irgendwann aber wird komischerweise spürbar, dass einige Spieler schwer mit den Nerven zu kämpfen haben: Die Innenverteidiger wirken nicht sicher und souverän, auch Koby spielt einfache Pässe zum Gegner. Was ist da bloß für eine Psycho-Kiste am Laufen bei der Eintracht – und wie bekommt man das wieder repariert? Und just in diesen meinen Gedanken hinein vergibt Ziegele eine hundertprozentige Chance…Kurz darauf verliert der ebenfalls reichlich neben sich weilende Patrick Kammerbauer in der Angriffsbewegung den Ball, Chemnitz kontert, bekommt eine Ecke, und Bumm – Chemnitz führt. „Mal zu Null spielen“ hatte ich geantwortet auf Mex‘ Frage nach meinem Ergebnis-Tipp. Vergiss‘ es. Der positive Stimmungs-Elan auf den Rängen wechstelt in den Trotz-Modus: „Wir woll´n Euch kämpfen sehen…“

Da hilft nur Bier

Mex und ich lehnen uns zurück an den Wellenbrecher und starren etwas leer auf‘s Spielfeld. Ich will doch einfach nur mal wieder gewinnen… Wann war der letzte Heimsieg? Am 24. August – vor drei Monaten… Bis jetzt ist das ein Grottenkick -- da hilft nur eins: Bier holen für alle, Bier trinken mit allen… Denn Chemnitz hat Chancen auf’s 2:0, von uns ist nicht viel zu sehen. Sofort überlegen wir im Fanclub, was der Trainer nun ändern muss: Kammerbauer, Ademi, auch Koby – alles Auswechselkandidaten. Du darfst aber nur drei und Nehrig schafft garantiert noch keine 90 Minuten – also Vorsicht.

Das Stadion durchs Bierglas gesehen. Malte Schuhmacher
Blick durchs Bierglas aufs Spielfeld im Stadion an der Hamburger Straße.

Mehr Bier

Es trifft dann in der Tat Kammerbauer und Ademi, Feigenspan und Wiebe kommen dafür. Die Mannschaft zeigt sich in der zweiten Halbzeit auch etwas weniger fehlerhaft – wieder wünsche ich mir, einmal Gast sein zu dürfen in der Kabine während der Pause. Kommt ein 1,90 Meter großer Marco Antwerpen da nicht schon allein körperlich anders rüber als der 1,75 Meter kleine Christian Flüthmann? Wie auch immer: Es sieht etwas besser aus jetzt. Liegt auch am mittlerweile x-ten Bier, aber anders geht’s heute wirklich nicht… Feigenspan zeigt gleich mal einen Seitfallzieher – weitermachen bitte!

Mike Feigenspan

Während ich gerade ein Foto durch meinen Bierbecher hindurch mache, sind wir im Angriffsmodus. Sieht eigentlich nicht gefährlich aus, Feigenspan hat die Pille wohl in Richtung Tor geschlagen aus 20 Metern – und das Ding zappelt im Netz. Oh Gott, was für eine Erlösung. Abklatschen, anstoßen. Eine Minute später dann komplette Ekstase: Feigenspan möllert aus 12 Metern einen Abpraller per Kopf rein – ich fasse es nicht… Feigenspan, Du alte Keule, Du Tausendsassa… Und der neue Trainer scheint zumindest eines zu können: einwechseln.

Mal wieder feiern in der Südkurve

Ist das nun ein verdienter Sieg? Ist mir doch wurscht. Chemnitz reißt nichts mehr, wir lassen nichts mehr anbrennen: Schlusspfiff, jubeln, feiern. Im Block 6 und in der Südkurve sowieso, aber auch die Spieler sind erleichtert und glücklich. Der Trainer hat nun eine weitere Woche Zeit, die „Psycho-Kiste Eintracht“ kennenzulernen und zu sortieren – ich wünsche ihm, dass er das schafft. Haben wir ja alle was davon. Vielleicht bringt er ja eine Trainer-Eigenschaft mit, die Marco Rose im aktuellen 11FREUNDE skizziert: „Ein Trainer fährt schon gut damit, wenn er versucht, die Menschen zu verstehen, mit denen er zu tun hat“. Schwierig genung im Moment bei unserer Eintracht…

„Ein Trainer fährt schon gut damit, wenn er versucht, die Menschen zu verstehen, mit denen er zu tun hat“

Marco Rose, Trainer Borussia Mönchengladbach

Kay Rohn:

Spargelstraße

Mit dem Fahrrad wähle ich den Weg aus den 60er Jahren über die Spargelstraße. Von der Nordstraße aus geht eine kleine unscheinbare Straße, der Luftschifferweg (jetzt mit Graffiti und Anbindung an den Ringgleisweg) bis zur alten Eisenbahnbrücke am Nordbahnhof. Hier hörte man immer schon den Stadionsprecher, hier kam auch einst der Zirkus Krone mit dem Zug an und Elefanten trotteten zum Festplatz an der Hamburger Straße. Weiter geht es über den Nordanger und die Spargelstraße. Wie früher haben Insider hier zum Spiel ihre Parkplätze. Vorbei am großen Neubaugebiet „Nördliches Ringgebiet“. Hier wächst Braunschweig zur Zeit am schnellsten. Und vorbei an den Kleingärten. Nach dem Spiel standen da immer die Interessierten am Zaun und wollten das Ergebnis wissen. Aber die Kleingärten sind Geschichte werden zur Zeit gerade abgeräumt.

Die neue Formel: Antwerpen + Team + Vollmann

Letzten Sonntag, 18:00 Uhr. Ich war überrascht, wie wahrscheinlich viele. Ich hätte im Moment nicht die Notwendigkeit gesehen, Christian Flüthmann auszutauschen. Andreas Heuer, Professor für Physikalische Chemie an der Universität Münster und Experte für die Theorie komplexer Systeme, untersucht in seiner Forschung unter anderem den Fußball mithilfe von statistischen Verfahren. Seine Erkenntnis: „Wir haben zusammen mit dem Sportpsychologen Bernd Strauss in einer Studie für 46 Bundesliga-Saisons alle Trainer-Wechsel nach dem 10. und vor dem 23. Spieltag untersucht. Das waren mehr als 150 Trainerentlassungen. Dabei haben wir herausgefunden, dass es keinen sichtbaren Effekt auf die Ergebnisse der Mannschaft und damit auf die Leistungsstärke gibt.“ Natürlich kann es situative Anlässe für einen Wechsel geben, ähnlich wie in anderem beruflichen Kontext. So einen Anlass habe ich im Moment nicht gesehen. Der Sportdirektor ist natürlich näher und so gilt es, ihm Vertrauen für die Entscheidung entgegenzubringen.

"Die allermeisten Trainerentlassungen haben keinen sichtbaren Effekt auf die Ergebnisse der Mannschaft und damit auf die Leistungsstärke."

Andreas Heuer, Professor und Experte für die Theorie komplexer Systeme

Reaktion der Mannschaft I

Alle erwarten eine Reaktion. Aber die Mannschaft ist verunsichert, es entsteht kein flüssiges Zusammenspiel. Kleine Einzelaktionen, auch Chancen, aber eher das Bild einer Mannschaft, die nach einer Spielidee sucht, die als Team nicht die Räume abdeckt und auch nicht offensiv die Räume bespielt. Es tut gut, dass mit Bernd Nehrig wieder ein erfahrener Spieler auf dem Feld steht.

Braunschweiger Kreis

Gleich nach dem Pausenpfiff fängt Marco Antwerpen seine Mannschaft noch vor der Seitenlinie ab. Im Kreis hören sie dem Trainer zu. Eine Maßnahme, die ich persönlich noch nicht gesehen habe. Mehrere Minuten bleibt das Team bei den Worten des Trainers zusammen. Was ist in diesem „Braunschweiger Kreis“ passiert? Hier eine Mutmaßung:

Marco Antwerpen will, dass die Mannschaft die erste Halbzeit noch auf dem Feld abschließt und nicht mit in die Halbzeit nimmt. Praktisch ein Neustart. So ist es für die Spieler möglich den Kopf frei zu bekommen und eine veränderte taktische Ausrichtung anzunehmen. So könnte es gewesen sein.

Reaktion der Mannschaft II

Eine Reaktion ist nach der Halbzeitpause zu sehen. Die Mannschaft kämpft um jeden Ball, zu dritt wird der Gegner angegriffen, ich spüre Einsatzwille und Körperspannung. Aber trotzdem können einzelne Spieler nicht ihr Potenzial auf den Platz bringen. Wichtig ist vor allem aber: sie haben sich nicht hängen lassen.

90 Minuten in einer Minute entschieden

Mike Feigenspan entscheidet innerhalb von 60 Sekunden das Spiel. Mit seinem Drang zum Tor erzielt er glücklich den Ausgleich mit dem linken Fuß, Sekunden später vollendet er den nächsten Angriff mit einem sehenswerten Kopfball. 

Eintracht-Trainer Antwerpen jubelt nach dem Sieg gegen Chemnitz. Kay Rohn
Geschafft! Endlich mal wieder drei Punkte zuhause behalten. Eintracht-Trainer Marco Antwerpen reißt die Arme in die Höhe.