Eine Gewerkschaftlerin mit roter Fahne vor einem Plakat in Braunschweig. Meike Buck

Mit Abstand solidarisch:
Die Mai-Kundgebungen 2020

1. Mai, Tag der Arbeit, Maifeiertag. Dazu gehören – neben dem freien Tag – auch Demos und Kundgebungen, Transparente und Reden. Das Programm des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DBG) in Braunschweig stand schon: Kundgebung auf dem Burgplatz, Demonstrationszug zum Bürgerpark und dann ein Internationales Familienfest mit buntem Bühnenprogramm. Doch wie so vieles dieses Jahr kam es anders.

Um trotzdem sichtbar zu sein und seine Forderungen bekannt zu machen, hat der DGB-Stadtverband Braunschweig ein Konzept mit einem analogen und digitalen Programm entwickelt. Neben einem Livestream des Bundesverbandes unter dem Motto „Solidarisch ist man nicht allein“ stehen Kolleginnen und Kollegen entlang des Ringgleises und im Bürgerpark mit Transparenten und informieren über die Themen der Gewerkschaften.

Zum ersten Mal seit 1949: Keine zentrale Kundgebung, keine Demonstration

An der Echobrücke am Kennelbad treffe ich Garnet Alps, 2. Bevollmächtigte der IG Metall Braunschweig. Natürlich sind auch die Auswirkungen der Corona-Krise Thema unseres Gespräches.

„Wir Gewerkschaften stehen für Unterhaken, für gemeinsames Kämpfen, für eine enge Verbindung zu den Menschen“, sagt sie. Dass das nicht nur symbolisch sei, dass zeigten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer immer wieder in den Betrieben, aber natürlich auch jedes Jahr am 1. Mai. Doch zum ersten Mal seit der Gründung des DGB im Jahr 1949 gibt es 2020 keine Demos und Kundgebungen auf Straßen und Plätzen. „Aber gerade jetzt ist unsere Arbeit so wichtig“, ist Garnet Alps überzeugt. Die Forderungen der Gewerkschaften sind nicht neu und hätten auch jetzt in der Krise nichts an Aktualität verloren, im Gegenteil. „Dass die Pflegekräfte in den Seniorenheimen und Krankenhäusern zu gering bezahlt werden und ihre Arbeitsbedingungen schlecht sind, das sagen wir schon lange. Jetzt ist es mehr in den Fokus der Gesellschaft und ins Bewusstsein gerückt.“

Eine Gewerkschaftlerin mit roter Fahne vor einem Plakat in Braunschweig. Meike Buck
Garnet Alps hält die Fahne der IG Metall an der Braunschweiger Echobrücke hoch.

 Die Bedeutung der IG Metall ist groß in der Region

Aufgrund der Betriebslandschaft ist in der Region Braunschweig die Bedeutung der IG Metall besonders groß, 150.000 Mitglieder hat sie in Südostniedersachsen, 20.000 sind es in der Geschäftsstelle Braunschweig. Garnet Alps beobachtet, dass in Betrieben, die gut gewerkschaftlich organisiert sind, die Auswirkungen der derzeitigen Krise besser abgefedert werden können als in Unternehmen ohne eine starke Arbeitnehmervertretung. Dort sind die MitarbeiterInnen oft schutzlos den Eingriffen in ihre Rechte ausgeliefert. Insgesamt würden die Betriebe aber verantwortungsbewusst mit der Situation umgehen. „Die letzten Wochen haben gezeigt, wie wichtig die sozialstaatlichen Maßnahmen jenseits rein kapitalistischer Logik sind“, sagt Garnet Alps, aber sie warnt auch: „Selbst wenn die Gesundheit aller jetzt das Wichtigste ist und viele Maßnahmen notwendig sind, ist es natürlich keine demokratiefreie Zeit! Wir müssen genau hinschauen, parlamentarische Kontrolle einfordern und für unsere Forderungen und Rechte gemeinsam einstehen.“

Trotz der Herausforderungen, vor denen die Gesellschaft mit dem Virus und dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Shutdown steht, sind sich alle bewusst, dass wir in Deutschland in einer privilegierten Lage sind. So werden die Pins zum Ersten Mai, das sichtbare Zeichen der Sympathie für die gewerkschaftlichen Forderungen, dieses Jahr gegen eine Spende für Ärzte ohne Grenzen abgegeben.

"Selbst wenn die Gesundheit aller jetzt das Wichtigste ist, ist es natürlich keine demokratiefreie Zeit!"

Garnet Alps, IG Metall Braunschweig

Diskussion mit Abstand und Mund-Nasen-Schutz

Ich radele auf dem Ringgleis zum Westbahnhof, wo die 1. Bevollmächtigte der IG Metall, Eva Stassek, ein Transparent aufgehängt hat. Hier sind viele Menschen unterwegs, zu Fuß, auf dem Fahrrad, mit Rollern und Inlineskates. Und immer wieder bleiben sie stehen und diskutieren mit den Gewerkschaftsvertretern.

Mit einer Passantin habe sie ein intensives Gespräch über die Idee des bedingungslosen Grundeinkommens geführt, erzählt Eva Stassek. „Wir treten für eine gerechte Verteilung der Arbeit ein, weil wir sehen, wie wichtig eine Beschäftigung für das Selbstwertgefühl der Menschen ist, das ist allemal besser als alimentiert zu werden.“ Umso erschreckender sind die Zahlen, die die Agentur für Arbeit in den letzten Tagen bekannt gegeben hat. Noch nie stieg die Zahl der Arbeitslosen in einem April, jetzt waren es 308.000 Menschen mehr als im Vormonat.

Kurzarbeitsvereinbarungen in den Unternehmen, mit den Betriebsräten für die Beschäftigten abgeschlossen, schützen vor Verlust des Arbeitsplatzes und sichern so die Existenz-Perspektive. Vor dem Hintergrund, dass nach aktuellen Zahlen 10,1 Millionen Menschen zurzeit in Kurzarbeit sind, hat sich ein Thema in den Fokus der Gesellschaft geschoben, das vorher wenig Beachtung fand.

"Irgendwann ist Corona Geschichte geworden“

Dass auf einem Transparent in Braunschweig die Erhöhung des Kurzarbeitergeldes auf 80 und 87 Prozent gefordert wird, ist nicht neu – aber jetzt betrifft es nicht nur einzelne Unternehmen und bekommt somit politisch mehr Gewicht. „Wenn die Betriebe die derzeitigen 60 beziehungsweise 67 Prozent nicht aufstocken, reicht das für viele nicht zum Leben“, sind sich alle einig. Eva Stassek liegen auch die Familien am Herzen, die mehr in den Blick der Verantwortlichen gerückt und entlastet werden müssten. „Auch das Infektionsschutzgesetz muss weiter angepasst werden, damit Eltern, die derzeit keine Kinderbetreuung haben, nicht nur mit 67 Prozent ihres Entgelts auskommen müssen. Und das auch noch begrenzt auf 6 Wochen. Auch kritisiert sie die politischen Eingriffe, wie beispielsweise die zusätzlichen Sonntagsöffnungen oder die Ausweitung der täglichen Arbeitszeiten in bestimmten Bereichen.

Sie hofft, dass die derzeitige Krise auch genutzt wird, um nachhaltige Konzepte zu entwickeln und Projekte in Angriff zu nehmen. Für eine Region mit der Ausrichtung auf den Auto-, Bus- und Schienenfahrzeugbau so wie Braunschweig seien das besonders Fragen der Energie- und Mobilitätswende. „Wir müssen in ökologische und soziale Themen investieren“, ist sie überzeugt.

Aber auch gute Nachrichten gibt es: „In einigen Tarifverträgen konnten wir flexible Lebensphasenarbeitszeitmodelle vereinbaren, die sich der individuellen Situation der ArbeitnehmerInnen anpassen und dadurch auch die Attraktivität der Unternehmen steigern“, berichtet Eva Stassek. Das wirkt auch noch für Arbeitnehmer und Unternehmen, wenn Corona Geschichte geworden ist.

Ein Gewerkschaftler in dunkler Jacke vor einem Plakat in Braunschweig. Meike Buck
Heinrich Betz sieht neue Möglichkeiten durch die digitalen Angebote.

"Diese diskussionsfreudige Zeit wollen wir nutzen"

Heinrich Betz sieht bei allen Schwierigkeiten, die die Versammlungsverbote für die diesjährige Maifeier bedeuten, auch Chancen für die nächsten Jahre. „Wir lernen gerade viele digitale Möglichkeiten kennen, die wir auch in Zukunft nutzen sollten“, findet der Betriebsrat bei Volkswagen und Vorsitzende des DGB-Stadtverbandes Braunschweig. So könnten mehr Menschen auf die Arbeit der Gewerkschaften aufmerksam gemacht werden. Und auch in der Gesellschaft beobachtet er in vielen Bereichen ein Umdenken. „Jeder spricht gerade über gesellschaftliche und politische Themen. Diese diskussionsfreudige Zeit wollen wir nutzen, um mit unseren Positionen sichtbar zu sein“ – auch wenn es dieses Jahr mit Abstand ist.

Viele der Themen, die die Gewerkschaften vertreten, sind nicht neu, aber gerade jetzt seien Forderungen wie nach einem starken Sozialstaat besonders nötig. Heinrich Betz sieht auch bei Menschen, die sonst eher Abstand zu den Arbeitnehmervertretern halten, ein neues Bewusstsein für gewerkschaftliche Positionen. „Sie machen sich Gedanken darüber, was unsere Gesellschaft ausmacht, sie entdecken den Gemeinsinn wieder und kritisieren die Ellenbogengesellschaft.“

Manche Unternehmen dagegen würden die Krise nutzen, um bereits Erreichtes wieder zurückzudrehen. So berichtet Heinrich Betz, dass einige Betriebe die jetzige Situation nutzen, um die Anzahl der Ausbildungsplätze zu reduzieren, für die die Gewerkschaften lange gekämpft haben. Die Krise ist für alle eine große Belastung, trotzdem glaubt er, dass Lösungen, die jetzt gefunden werden, auch in Zukunft genutzt werden, wie das Homeoffice. „Aber hier ist Augenmaß nötig“, schränkt er ein. „Welche Auswirkungen zum Beispiel das Fehlen von informellen Gesprächen auf die Arbeitsabläufe und das Betriebsklima hat, wird sich erst langfristig zeigen können.“

Ein Gewerkschaftler steht links neben einem Plakat. Meike Buck
Leiser als in den Vorjahren, trotzdem sind die Forderungen der Gewerkschaften im Bürgerpark präsent.

Der 1. Mai hat seinen Ursprung in den USA

Der Weg vom Westbahnhof zum Bürgerpark bietet Gelegenheit, über die Geschichte des 1. Mai nachzudenken. Nicht nur in Deutschland, in vielen Ländern der Welt gibt es einen Tag der Arbeit am 1. Mai. Seinen Ursprung hat er aber in den USA, im Kampf der Arbeiter gegen die schlechten Arbeitsbedingungen und die schlechte Bezahlung der Industriearbeiter.

1886 riefen die Handels- und die Arbeitergewerkschaft zu einem Generalstreik zur Durchsetzung des Acht-Stunden-Tages auf, der in Chicago mit einer Bombenexplosion und mehreren toten Arbeitern und Polizisten endete. Nach dem blutigen Zwischenfall auf dem Chicagoer Haymarket wurde der 1. Mai zum Kampftag für den Achtstundentag – auch in Europa. In Deutschland beteiligten sich 1890 bereits rund 100.000 Arbeiterinnen und Arbeiter an den Demonstrationen, zum Beispiel in Berlin, Dresden und Hamburg – trotz des sogenannten „Sozialistengesetzes“. In den folgenden Jahrzehnten engagierte sich die SPD dafür, den 1. Mai als gesetzlichen Feiertag durchzusetzen, was im April 1919 schließlich gelang – allerdings nur für das eine Jahr.

Im Jahr 1933 führten die Nationalsozialisten den „Tag der Arbeit“ erneut deutschlandweit als gesetzlichen Feiertag ein – missbrauchten ihn aber für ihre eigene Propaganda. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bestätigten die Alliierten den Maifeiertag, seit seiner Gründung 1949 organisiert der Deutsche Gewerkschaftsbund die Demos und Kundgebungen. Er ist der Dachverband der acht Mitgliedsgewerkschaften und vertritt somit rund 6 Millionen ArbeitnehmerInnen. Mit mehr als 2,2 Millionen Mitgliedern ist die IG Metall, die Vertretung der Arbeitnehmer der Branchen Metall/Elektro, Stahl, Textil/Bekleidung, Holz/Kunststoff und Informations- und Kommunikationstechnologiebranche, Textil/Bekleidung und Holz/Kunststoff die größte Einzelgewerkschaft im DGB.

Rote Nelke im Knopfloch, Butterbrot im Kinderwagen

Im Bürgerpark ist es etwas ruhiger als auf dem Ringgleis. In den letzten Jahren haben sich zwischen den Okerarmen rund 7.000 GewerkschaftlerInnen und Freunde zum Internationalen Fest versammelt. Heute schnattern die Gänse mit ihren Küken ungestört auf den Wiesen am Ufer. An der Brücke über die Oker hängt weithin sichtbar das Transparent, das die Unterstützung von ArbeitnehmerInnen und Arbeitslosen fordert. Der Slogan „1. Mai bleibt!“ lässt sich nicht nur auf die weiterhin aktuellen Themen der Gewerkschaften übertragen, sondern auch auf die derzeitige Situation, die unser Leben und unsere Arbeit auf den Kopf stellt und viele Selbstverständlichkeiten in Frage stellt. Und in der deshalb der Maifeiertag als traditioneller Tag der Arbeit vielleicht wichtiger ist als je zuvor.

Auf dem Weg nach Hause werden Erinnerungen an die Maifeiertage meiner Kindheit wach. Mein Vater engagierte sich in der GEW, der Bildungsgewerkschaft im Deutschen Gewerkschaftsbund, in seinem Arbeitszimmer lag der rote GEW-Lehrerkalender immer auf dem Schreibtisch, die Regale voll mit „roter“ Literatur und an der Wand steckte der runde „Willi wählen“-Button, der an den Wahlkampf von Willy Brandt zur Bundestagswahl 1972 erinnerte – in deren Ergebnis Willy Brandt mit 45,8 Prozent wiedergewählt und die traditionell gewerkschaftsnahe SPD erstmals stärkste Kraft im deutschen Bundestag wurde – Jahre vor meiner Geburt. Die Teilnahme an den Maikundgebungen war also Pflicht und so liefen in den 1980er Jahren auch meine Mutter, meine Geschwister und ich bei der Demonstration in meiner Heimatstadt mit, mit roter Nelke im Knopfloch und dem Butterbrot im Kinderwagen.

Wie unterscheiden sich meine Erinnerungen von dem heutigen Tag. Doch alle sind zuversichtlich und freuen sich darauf, den nächsten Tag der Arbeit wieder in gewohnter Weise begehen zu können, untergehakt, gemeinsam vorangehend und nah mit den Menschen – nicht nur symbolisch.

Informationen zum etwas anderen Tag der Arbeit gibt es auf der Seite der IG Metall Braunschweig.