Eine Frau und ein Mann vor dem Schöninger Tagebau. Gunnar Heyms

Mit dem Pedelec zu Grenzanlagen, Tagebau und archäologischen Sensationen

Schöningen, Wellmannstraße 1. Michael Mechau hat drei Miet-Pedelecs aus dem Laden geschoben. Jetzt erklärt er mir, wie das Fahrrad mit elektrischer Unterstützung bedient wird. Alles ganz einfach! Trotzdem bin ich vorsichtig und starte im Eco-Modus, um jedwede Peinlichkeit vor Publikum zu vermeiden.

Mit Thomas Kempernolte, dem Rad- und Wander-Guru des Naturparks Elm-Lappwald, will ich Schöningen erkunden. Ebenfalls dabei: Gunnar Heyms, Projektleiter Regionalmarketing bei der Allianz für die Region.


Die Schöningen-Route war die erste Radtour, die Thomas Kempernolte beschrieben, bebildert und veröffentlicht hat. 12,9 Kilometer kurz, leicht, aber fast maximale Punktzahl in den Kategorien Erlebnis und Landschaft – das sind die Eckdaten der Route.

Drei Leute stehen vor mehreren Fahrrädern. Gunnar Heyms
Vor der Abfahrt erklärt Michael Mechau Bloggerin Beate Ziehres, was bei der Nutzung eines Pedelecs zu beachten ist.

Wir verlassen das blumengeschmückte Kleinod, das Michael Mechau zwischen der Fahrradvermietung „Omas Drahtesel“ und seinem Restaurant „Omas Küche“ geschaffen hat. Vorbei an den typischen Steinhäusern der Bergbauregion rollen wir aus der Innenstadt hinaus in Richtung Hötensleben.

„Gerade bei den Radrouten ist mir wichtig, dass die Orte eingebunden sind“, erklärt Kempernolte. „Das war früher nicht der Fall. Die Radwege gingen an den Orten vorbei. Bei uns in der Region und auch bei den anderen Radrouten, die ich geschrieben habe, habe ich die Touren so gelegt, dass die Innenstädte eingebunden werden. Auch die Fußgängerzonen. Da muss der Radfahrer, wenn es nicht anders geht, einfach mal 200 oder 300 Meter schieben.“

Und es funktioniert. „Ich sehe die Radtouristen jeden Tag an meinem Haus vorbeifahren. Ein befreundeter Gastronom und Hotelbesitzer sagt mir, seit die Touren umgelegt sind, sind viele Radfahrer da“, sagt der Schöninger. 

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Ausgrabungsstätte von Weltrang in Schöningen

Hinter den friedlich anmutenden Gärten und Häuschen des Kleingartenvereins „Sonnenland“ öffnet sich linkerhand schnell die Erde. Der inzwischen ausgekohlte Tagebau Schöningen erststreckt sich fast bis zu den Häusern der Stadt. Berührungsängste scheint es hier nicht zu geben - schließlich hat Schöningen der Braunkohle Reichtum und tatsächlich auch Ruhm zu verdanken.

„Der Tagebau erstreckt sich fast bis zu den Häusern der Stadt. Berührungsängste scheint es hier nicht zu geben.“

Auf den nächsten Metern kommt eine Türe im Zaun in Sicht. Wir bremsen die Pedelecs und betreten das Tagebaugelände. Ich scheue mich etwas, aber Thomas Kempernolte beruhigt mich. Er kenne da jemanden.

Vor uns liegt eine weltbekannte Ausgrabungsstätte: Der Fundort der Schöninger Speere. Hier drehen Archäologen und ihre Helfer heute noch jeden Kubikmeter Erde um, auf der Suche nach Zeugnissen längst vergangener Zeiten und neuen Erkenntnissen.

Wir können ein paar Worte mit Dennis Mennella, dem Vorarbeiter des Grabungsteams, wechseln. Er zeigt uns die Stelle, an der zuletzt das nahezu vollständige Skelett eines eurasischen Waldelefanten gefunden wurde. Die Elefantenherde – geborgen wurden Fossilien von mindestens zehn Elefanten – lebte hier vor 300.000 Jahren am Ufer eines Sees.

Auch Menschen, die um diese Zeit hier jagten, hinterließen Spuren rund um die Fundstelle. Aber: Fachleute gehen davon aus, dass das Tier mit einer Schulterhöhe von 3,2 Metern und einem Gewicht von 6,8 Tonnen aus Altersgründen gestorben ist.

Drei Männer stehen am Tagebau. Beate Ziehres
Stippvisite am Ausgrabungsort der Schöninger Speere. Im Foto von links: Dennis Mennella, Thomas Kempernolte, Gunnar Heyms.

Mit dem Pedelec auf Zeitreise

An der Ausgrabungsstelle am Rand des Tagebaus dringen die Archäologen immer tiefer in die Erde ein und bewegen sich so immer weiter zurück in der Erdgeschichte. Die Funde liefern interessante Erkenntnisse darüber, wie Flora, Fauna und das Leben in dieser Epoche – der Reinsdorf-Warmzeit – ausgesehen haben.

Hier könnte ich noch Stunden verweilen, doch unsere Radtour hat ja gerade erst begonnen. Wir treten ein paarmal in die Pedale und schon halten wir an der nächsten Attraktion an: dem Forschungsmuseum Schöningen, vielen Menschen in der Region auch als „Paläon“ bekannt.

Hier treffen wir den wissenschaftlichen Grabungsleiter Jordi Serangeli. Er ist zwar gerade im Gespräch mit der Blogger-Kollegin Miss Jones. Trotzdem nimmt er sich einen Moment Zeit für uns.

„Schöningen ist die wichtigste Fundstelle der Welt! Wir haben weltweit einzigartige Holzartefakte gefunden“, sagt der gebürtige Römer in Anspielung auf die Schöninger Speere. Für ihn steht außer Zweifel, dass an dieser Stelle weitergeforscht werden muss: „Wir finden jeden Tag Holzartefakte, Steinartefakte, Knochen und vom Menschen bearbeitete Knochen“, berichtet Jordi Serangeli.

Während seiner Zeit in Schöningen wurden hier unter anderem ein europäischer Wasserbüffel, der älteste Auerochse Europas und mehrere Säbelzahnkatzen gefunden.

„Schöningen ist die wichtigste Fundstelle der Welt!“

Jordi Serangeli, Archäologe

Bei den Waldelefanten

Im Forschungsmuseum treffen wir auch auf die Waldelefantenherde. Gleich am Eingang tauchen wir ein in eine urweltliche Szenerie, in der die Elefanten unterwegs sind. Als wir das flache Podest vor dem Bildschirm betreten und winken, nähern sich die Elefanten und wir können die Erschütterung des Bodens unter unseren Füßen spüren. Draußen am urzeitlichen See haben die Tiere Fußabdrücke mit etwa 60 Zentimetern Durchmesser hinterlassen.

Ein Mann steht vor einem Bildschirm, der Elefanten zeigt. Beate Ziehres
„Hallo!“ Thomas Kempernolte winkt die virtuellen Waldelefanten heran.

Während wir am Rande des Tagebaus weiterradeln in Richtung Osten finde ich Gelegenheit, Thomas Kempernolte ein paar Fragen zu stellen. Warum opfert der Mann – im Berufsleben Ingenieur bei Volkswagen – seine freie Zeit, um ungezählte Radtouren auszuarbeiten, abzufahren und für diverse Outdoor-Portale im Internet aufzubereiten? „Wenn ich Rad fahre, nebenbei ein paar Fotos mache und mir die Tour durch den Kopf gehen lasse, dann ist das mein Freizeitvergnügen“, sagt er.

Vor zwei Jahren reduzierte der heute 58-Jährige seine Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden. „Ich wollte den Freitag frei haben, um die Region voranzubringen.“

Thomas Kempernolte – ein Botschafter der Region

Viele Touren, die Kempernolte erarbeitet hat, führen in den Elm oder in den Lappwald. Der gebürtige Schöninger liebt es, in seiner Heimat unterwegs zu sein und den Menschen besondere Orte zu zeigen, die sie vielleicht noch nicht kennen. In diesem Bemühen liegt auch die Geburtsstunde von Kempernoltes Engagement. „Ich bin oft mit Freunden und Bekannten auf Mountainbike-Touren in der Region unterwegs. Sie haben mich dann gefragt: Wo sind wir, was fahren wir? Ich habe es erst erzählt und dann angefangen, es aufzuschreiben“, erinnert er sich.

Eine Mann mit Fahrrad zeigt auf einen Wegweiser. Gunnar Heyms
Thomas Kempernolte weiß auch ohne Wegweiser, wo der Weg langführt.

Inzwischen blickt Thomas Kempernolte weit über den heimischen Tellerrand hinaus. So hat er den West-Ost-Radweg, der in Gronau (Westfalen) startet und bisher nur bis Bartensleben bei Helmstedt ging, in diesem Jahr zu Ende geschrieben. Nun führt der Radweg bis nach Frankfurt an der Oder und wird seinem Namen gerecht.

„Das ist ein super Radweg. Er geht durch Braunschweig, Königslutter und Helmstedt und hat mir richtig Spaß gemacht“, erzählt Kempernolte. Hinweisschilder wird man an den Wegen der Region jedoch vergebens suchen: Der Ost-West-Radweg ist nur digital beschrieben, beispielsweise im Tourenportal der Region Braunschweig-Wolfsburg, für die Kempernolte veröffentlicht. Hier kann die Streckenbeschreibung als pdf heruntergeladen werden.

Alle Touren befinden sich natürlich auch auf Kempernoltes eigenem Tourenportal Elm-Freizeit.de.

Vom Riesenbagger zum „Eisernen Vorhang“

Längst haben wir auf unserer Pedelec-Tour um Schöningen den nächsten Punkt von Interesse erreicht: einen Schaufelradbagger, Baujahr 1952, der im Tagebau Schöningen seinen Dienst verrichtet hat. Am Tagebauinformationspunkt Schöningen erklärt mir Thomas Kempernolte die Funktion des Bergbaugroßgeräts und worauf der Baggerfahrer zu achten hat.

Außerdem gibt es hier Kohlezüge zu sehen. Ich genieße für einen Moment die atemberaubende Aussicht auf den Tagebau, dann treten wir auch schon wieder in die Pedale. Es geht weiter in Richtung Osten.

Nach etwas mehr als einem Kilometer überqueren wir die Landesgrenze nach Sachsen-Anhalt. Wir sind in Hötensleben.

Während an den meisten Straßen entlang der niedersächsisch-sachsen-anhaltinischen Grenze nur braune Schilder daran erinnern, dass Deutschland hier bis Ende 1989 geteilt war, ist der Eiserne Vorhang an dieser Stelle noch präsent. In Hötensleben sind die DDR-Grenzsicherungsanlagen auf einigen hundert Metern Länge komplett im Original erhalten geblieben.

„Für mich ist dieser Ort einzigartig, weil Hötensleben das in Deutschland am besten erhaltene Grenzdenkmal ist“, sagt Thomas Kempernolte. „Hier kann man Grenzgeschichte wirklich noch hautnah erfahren.“ Er erklärt mir, dass Hötensleben als Ort von der Grenze geteilt wurde. Auf der Westseite des Eisernen Vorhangs lagen die Gaststätte „Fährturm“ mit dem Saal, in dem alle möglichen Veranstaltungen stattfanden, und das Schwimmbad. Diese Einrichtungen wurden durch die Grenze vom Ort getrennt.

Zwei Radfahrer vor einer grünen Infotafel. Beate Ziehres
Stopp am Grenzdenkmal Hötensleben.

Über die Grenze nach Sachsen-Anhalt

Heute wandern Besuchergruppen auf dem Kolonnenweg im Sichtstreifen entlang des Eggenstreifens, wundern sich über spanische Reiter und die unüberwindbare Sichtschutzmauer. Die Mauer war mit Selbstschussanlagen gesichert. Man läuft hinauf auf den Hügel zum Führungsbunker im Turm. Wer von hier aus noch ein paar Schritte in Richtung der Wohnhäuser geht, kann eine weitere Besonderheit der Grenzanlagen besichtigen: die Hundelaufanlage.    

Unsere kleine Reisegruppe hat an dieser Stelle jedoch den Zeitrahmen schon längst gesprengt. Deshalb machen wir nur noch zwei Stopps, bevor es zurückgeht nach Schöningen. Ein Halt am ehemaligen Wachturm, der heute aus Gründen der Stabilität längst nicht mehr so hoch ist wie früher, muss einfach sein. Ein paar Meter weiter verlassen wir Sachsen-Anhalt wieder über die ehemalige Eisenbahnbrücke, an der die Bahnschwellen nur noch aus Nostalgiegründen angedeutet sind.

Ein alter Grenzwachturm bei Hötensleben. Gunnar Heyms
Halt am alten Wachturm - der früher einmal höher war.

Bevor wir auf dem ehemaligen Bahndamm in Richtung Schöningen radeln, sagt uns Thomas Kempernolte, was wir jetzt versäumen: Die Tour führt weiter über Hoiersdorf hinauf an den Rand des Elms. „Von dort oben hat man einen herrlichen Blick auf das Vorland des Elms bis nach Hötensleben und zum Haidholz. Dann geht es zurück nach Schöningen, vorbei an der Lorenzkirche mit dem Bibelgarten zum Schloss und von da aus zum Ausgangspunkt.“

Burgen, Seen, Velpker Schweiz: 224 Kempernolte-Touren in der Region

Thomas Kempernoltes erste Tour ist wirklich gespickt mit außergewöhnlichen Sehenswürdigkeiten. Und obwohl wir die Schöningen-Route nicht komplett absolviert haben und Schöningen für mich keine Unbekannte ist, kehre ich mit vielen neuen Eindrücken zurück in die Stadt.

Wie viele Radtouren Kempernolte online veröffentlicht hat, lässt sich schlecht beziffern. Allein auf dem Tourenportal der Region Braunschweig-Wolfsburg stammen 224 der insgesamt vorgestellten 790 Touren von Thomas Kempernolte. Er hat die Burgen des Elms zu einer Mountainbike-Tour zusammengefasst, den Lappwaldsee ins Zentrum einer Radtour gestellt und Radfahrern die reizvolle Landschaft der Velpker Schweiz nähergebracht.

Sein Wissen hat jedoch auch Eingang gefunden in sieben Rad- und Wanderbücher. Fast alle Bücher regen die Leser zu Touren durch den Naturpark Elm-Lappwald an. Die Ausnahme – Kempernoltes Buch Nummer 7 – ist vor wenigen Wochen erschienen: „Die 20 schönsten Radtouren – Ein Tourbuch für das Nördliche Harzvorland“ lautet der Titel. Der Autor legt Wert darauf, dass es zu jedem Buch eine App gibt, die das Nachfahren erleichtert.

Der „Iron Curtain Trail” ruft

Beim Abschied brennt mir noch eine Frage auf der Zunge. Träumt Kempernolte davon, irgendwann nur noch Fahrrad zu fahren? „Natürlich!“, lautet die Antwort, die ohne das geringste Zögern kommt. „Ich werde Ende des Jahres aussteigen und habe dann noch mehr Zeit, mich um die Dinge zu kümmern, die mir Spaß machen“, kündigt er an.

Thomas Kempernolte weiß auch schon, wo er dann hinfährt: Der „Iron Curtain Trail“ ruft! Den regionalen Abschnitt des berühmten Radfernwegs entlang des Eisernen Vorhangs hat Kempernolte bereits eigenhändig geplant und ausgeschildert.

Im kommenden Jahr will er sich die 1.400 Kilometer zwischen Swinemünde und Hof vornehmen. Und wer weiß, was danach folgt ... Schließlich ist der „Iron Curtain Trail“ insgesamt 12.000 Kilometer lang und führt von der Barentssee bis ans Schwarze Meer.

„Für mich ist der Iron Curtail Trail etwas ganz Besonderes“, verrät Kempernolte schon einmal und lässt mich zurück mit dem Kopf voller Bilder: Die einsame Tundra im Norden, die wilden Schluchten des Balkans im Süden – und in der Mitte Schöningen, der Elm, der Lappwald, unsere Region.