Manchen gilt das Leben auf dem Land als dröge und abgekoppelt. Unsere Bloggerin Susanne Jasper sieht das anders. Zwar dachte sie anfangs ähnlich, aber mehr als 20 Jahre auf dem Peiner Land haben sie eines besseren belehrt. Ein Plädoyer für das Landleben im Kreis Peine.
Vom Gelee zum See
Auf der Suche nach Wohlfühl-Sternchen im Peiner Land
Ganz ehrlich: Ich wollte nie aufs Dorf. In meinem Kopf rumpelten so die gängigen Klischees vom Leben auf dem Land unbeschwert durcheinander. Da kannst du dich lieber gleich einsargen lassen, bevor du vor Langeweile auf deiner adrett eingehegten Neubauparzelle jämmerlich verdörrst. Dorf ist tote Hose, alle sind ein bisschen hinterm Mond, und wehe wenn sie beim Volksfest einmal im Jahr losgelassen werden... Dann lieber Tratsch im Treppenhaus inklusive täglichem Nervenzusammenbruch bei der Jagd nach einem Parkplatz im angesagten Hipsterviertel der Großstadt.
Nun. Es kam anders. Seit 21 Jahren lebe ich mit meiner Familie in Wedtlenstedt. Ein Dorf, nee, nicht hinterm Mond, sondern im Landkreis Peine, Gemeinde Vechelde. Komm' mir jetzt nicht damit, dass Wedtlenstedt ja ganz okay sei. Aber hat es einen Laden? Einen Bäcker? Eine Kneipe? Einen klitzekleinen Kiosk? Einen Hausarzt geschweige denn Facharzt? Mag alles sein, Fremder, aber wenn du dich vor meinen Spiegel stellst und fragst: Spieglein, Spieglein an der Wand, wo ist das schönste Dorf im ganzen Peiner Land? Dann wird dir mein Spiegel antworten: Mag sein, dass es in Bettmar die süßesten Früchtchen zu pflücken gibt und du für die Rouladen von Schlachter Kirchner meilenweit über rostige Nägel robben würdest... aber Wedtlenstedt ist mir noch tausend mal lieber.
Feine Technik am Ball seit der Pampersliga
Weil es eben Heimat geworden ist. Weil die Jungs hier bei der „besten Lehrerin der Welt“, so steht`s im Poesiealbum, das Lesen und Schreiben gelernt haben, weil sie hier seit der Pampersliga ihre feine Technik in der Ballführung geschult haben, die sie zwar nicht zum FC nach Barcelona, aber immerhin zu einem Verein ein Dorf weiter gebracht hat. Weil sie beim Volksfest ihr komplettes Taschengeld beim Autoscooter verjubelt haben und den ersten besten Abend ihres an besten Abenden hoffentlich noch reichen Lebens hatten. Weil sie nach vielem Üben irgendwann beim Arschbombenwettbewerb im Stichkanal ihren Vater besiegten und wir diesen Triumph ausgelassen im Garten feierten. Und weil, ich bin ja `ne ehrliche Haut, Braunschweig gefühlt nur einen Katzensprung entfernt ist. Freitags kommst du sogar nachts um drei Uhr noch mit dem Bus nach Hause.
Und weil das alles subjektiver nicht sein könnte, verbietet es sich für einen Beitrag über Wohnen im Peiner Land natürlich, Elogen über das eigene Kaff zusammen zu fabulieren. Und man soll ja auch mal über den Tellerrand gucken. Mal gucken, was ich bei meinem spontanen Blindflug mit dem Finger über der Landkreiskarte als erstes antippe: Edemissen.
„Wohn- und Wohlfühlgemeinde“ Edemissen
Okay, in der Gemeinde war ich das letzte Mal vor gefühlten Ewigkeiten, muss in Plockhorst gewesen sein, als ich die Jungs mal wieder zu einem Spiel gegurkt habe. Die Gemeinde vermarktet sich als „Wohn- und Wohlfühlgemeinde“ – eine, sagen wir mal so, nicht überbordend pfiffige, sprachlich ausbaufähige Werbestrategie. Aber egal.
Ich fange klein an. Mit Wehnsen. Da soll es besonders idyllisch sein. Hat man natürlich gleich Dorfidyllen-Kino im Kopf. Wogende Weiden, gackernde Hühner, Kinder, die ohne Sattel reiten und die noch durch die Gegend stromern und erst abends dreckspatzig und glücklich nach Hause kommen. Ich fahre von der Bundesstraße 214 Richtung Celle links ab. Hinter Plockhorst, sorry, null bleibende Erinnerung, kommt Wehnsen.
Hm. Erstmal eine ziemlich breite, ziemlich gerade Kreisstraße, die Wehnserhorst heißt und den Ort resolut durchschneidet. Hat man ja oft so in Dörfern. Links und rechts Neues und Altes, Aufgehübschtes und Austauschbares. Auf den ersten Blick wenig Unverwechselbares. Heimatgefühl klinkert sich eben nicht an Hausfassaden fest. Homanns Hofladen hat heute geschlossen, also weiter zum Mitbewerber.
Hoorn`s Hof liegt in der Straße Unter den Eichen in Wehnsen. Hier gibt’s schon mal ein Wohlfühl-Sternchen. Den Laden gibt es seit 1988. Das war die Zeit, als Hofläden noch als Rarität von der lokalen Presse mit einem Artikel auf Seite 1 gewürdigt wurden. Seit Mitte der 90er ist die nette Verkäuferin am Tresen dabei. Acht Landwirte aus dem Ort haben den Laden einst mit ihren Produkten bestückt, mittlerweile sind es noch drei. Die Konfitüren und Gelees kochen die Frauen wie ehedem selbst, Kartoffeln liefern die Bauern des Ortes. Die meiste andere Ware kommt aus der Region, das Grillfleisch vom Dorfschlachter.
Den legendären Kartoffelmarkt gibt`s nicht mehr
Weithin bekannt war einst der Kartoffelmarkt, bei dem sich das ganze Dorf in einen einzigen Markttrubel verwandelte. „Legendär“ sei das gewesen. Der Markt war dann vor ein paar Jahren schon abgespeckt worden, weil die Ausrichter in die Jahre gekommen seien und niemand übernehmen wollte. Dann kam auch noch Corona... Eigentlich schade, dass solche Traditionen verkümmern.
Aber so ein Fest zu stemmen, das kostet wahrscheinlich ordentlich Zeit und Kraft, mit ein paar Bierzeltgarnituren aufstellen ist das nicht getan. Da kommt die Work-Life-Balance ins Kippeln, da winken, man muss es so sagen, die meisten jungen Leute ab. Und schon kriecht mich das schlechte Gewissen an. Hab` ich mich jemals engagiert in meinem Dorf? Klares Nein. Ich bin typischer Dorfschläfer. Asche auf mein Haupt.
Ich verabschiede mich und sage, dass ich noch mal bei dem Café hundert Meter weiter vorbeischauen will. Das gebe es leider auch nicht mehr, sagt die freundliche Verkäuferin. Und erklärt mir zum Trost noch sehr geduldig und sehr perfekt, wie ich zum Wehnser See komme.
Idylle pur am Wehnser See
Das Dorfleben ist wahrscheinlich fast überall wie ein Patient, der nicht mehr ganz mobil ist, in ganz schlechten Lagen schon am Tropf hängt. Bevor ich gänzlich melancholisch zu werden drohe, kreuzt eine Reitertruppe meinen Weg. Bestimmt vom Reiterhof Unsere Kleine Ranch. Hab ich doch vorhin ein Schild gesehen. Mit Satteln, also nicht ganz so bullerbümäßig wie in meinem Kopfkino, und die Reiterin auf dem weißen Pferd hat auch keinen Herrn Nilsson wie Pippi Langstrumpf auf der Schulter. Aber die heitere Sommerstimmung ist zurück. Und schon stehe ich am Ufer des Wehnser Sees. Kannste jetzt eigentlich nicht schreiben, weil so dermaßen durchgenudelt, aber wenn es nun mal passt: Idylle pur.
Zu blöd, dass ich meinen Badeanzug vergessen habe. „Klar können Sie uns fotografieren“, willigt die Frauenrunde freundlich ein, sich ablichten zu lassen. Im Hochsommer und am Wochenende liegen sie hier Handtuch an Handtuch, erzählen die Frauen. Manche kämen sogar aus Hannover, weil es hier so außergewöhnlich schön sei.
Ich würde auch noch gern ein Weilchen verweilen, aber ich muss weiter. Nach Edemissen. Der Chefin vons Janze, gewissermaßen. Edemissen hat eher so die Kragenweite von Vechelde. Sprich: Hier haste (fast) alles. Sogar ein Schuhgeschäft! Boomtown Edemissen am Rand der Heide ist vielleicht sprachlich wackelig, aber gebaut wird hier viel. Rewe klotzt richtig ran, der Neubau einer Kita für vier Gruppen zeugt von den zu erwartenden Neubürgern nebst Nachwuchs.
Da stehst du dann am Kran der großen Supermarktbaustelle und weißt nicht so recht weiter. Mein Sohn würde frotzeln: Kleine Mutti, leider völlig lost.
Ölrausch in Oelheim! Ehrenwort!
Da ist es gut, wenn man jemanden kennt, der einem Tipps geben kann. Quasi inside Edemissen. Der einen mit nach Oelheim nimmt, wo es tatsächlich mal einen Ölrausch gab. Ehrenwort! Ich will Sie jetzt nicht mit Details langweilen, die Sie sich selbst zusammengooglen können, deshalb nur so viel: Öl- und Salzpfad Oelheim ins Suchfenster am Laptop eintippen. Und am Rand der Wiesen und Felder entlang spazieren. Und zur Ruhe kommen.
Weil Lidl und Co. in Edemissen so ähnlich aussehen wie in Vechelde, lasse ich die Topadressen der Nahversorgung hinter mir und lasse mir den unverwechselbaren alten Ortskern von Edemissen zeigen. Geben Sie ins Navi „Eichenweg“ ein. Dann sind Sie da.
Da kann man sich den Zehntspeicher ansehen, der 1766 auf dem Gografenhof gebaut wurde. Jetzt mal bisschen Pflichtkenntnisse aus dem Geschichtsunterricht hervorgekramt: steuerpflichtige Bauern mussten dort ein Zehntel ihrer Feldfrüchte abgeben. Der Heimatverein belebt das Gebäude heute fernab von jedweden Steuererhebungszwängen.
Eine Vokabel sei mir jetzt auch noch gestattet: malerisch. In dem ein oder anderen Garten würde man jetzt auch gern einen Riesling nippen und die Besitzer loben für ihre Sanierungsgeduld. Und dann der Wipperhof. Ein liebevoll saniertes niederdeutsches Hallenhaus. Mietbar für jedermanns Feierfreuden. Sollte ich noch mal in die Verlegenheit einer Hochzeit... Mensch, sagt meine Begleitung, hier kannste auch deinen nächsten Runden feiern.
Edemissen hatte sogar mal eine Landebahn
Ich bin ein bisschen reizüberflutet. Gut, dass ich nichts über Berlin schreiben muss. Wäre ich völlig lost. Und skurrile Geschichten gibt es auch hier, wie die von den wohlhabenden Knöpfen, die sich eine Landebahn anlegen ließen. Weil sich die Erben zerstritten, ist längst alles verkrautet.
Also hin zum Hügel Berkhöpen, der nicht nur einen Gewerbepark beheimatet, sondern richtig schöne Spazierwege bietet. Hier lässt es sich unterm Laubdach selbst bei Bullenhitze verschattet spazieren.
Apropos Bullen. Oder so in etwa: Mutterkuhhaltung. Gerade wieder viel debattiertes Thema. In Oedesse gibt es einen Bauern, der diese Tierhaltung betreibt. Kuh und Kälbchen bleiben bis zu einem Jahr beisammen. Damit die Tiere sich aber nicht vollends vom Menschen entwöhnen und „verwildern“, fährt er abends hin und kippt der Herde zwei, drei Badewannen voll Brötchen vor die Hufe. Teigwaren, die selbst bei den Tafeln keine Abnehmer mehr fanden. Sie müssen mal sehen, wie die Tiere in Galopp verfallen, wenn sie den Brötchenexpress des Bauern nahen sehen. Ein echtes Schauspiel. Kriegste selbst im besten Stadttheater nicht geboten.