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Ein Bild aus Zeiten, als hier noch 5000 Menschen in der Stahlerzeugung malochten.    Susanne Jasper

Von der Eisenzeit ins Digitale
Wo einst Hütte war, wird jetzt alles giga

Zeitweise arbeiteten bis zu 5000 Menschen auf dem 40 Hektar großen Areal in der Roheisengewinnung. Die Ilseder Hütte im Landkreis Peine war ein moderner Industriestandort. 1995 war Schluss, eine Ära in der Stahlindustrie ging zu Ende. Und es entstand etwas neues: der Gigapark+. Ein Besuch.

Gigapark+.
Selbst wenn man nicht überbordend fantasiebegabt ist und sich beim Verfertigen eines Schulaufsatzes eher schwer getan hat, purzeln einem beim Hören dieses Namens Adjektive und Assoziationen munter durch den Kopf. Gigantisch. Gigabit-Internet. Bestimmt mega. Ich schreibe hier mal nur die drei naheliegendsten auf, um dem geistreichen Leser nicht den Spaß am Selberknobeln zu nehmen. Und dieses pfiffige +, das öffnet natürlich sowieso Tür und Tor für Mehrwert aller Art auf dem einstigen Gelände norddeutscher Stahlindustrie.

Es hätte viel schieflaufen können

Ilsedes Bürgermeister Nils Neuhäuser genannt Holtbrügge (40) zeigt mir in seinem Büro im Ilseder Rathaus das kluge Nutzungskonzept für das ehemalige Hüttengelände. Danach brechen wir auf zu einem Rundgang über das Areal, das an exponierten Stellen mit Relikten oder großen bebilderten Erklärtafeln noch immer Zeugnis ablegt von der schweren Maloche einstiger Tage. Dazwischen bleibt Neuhäuser zwischen Kugelwasserturm und Gebläsehalle stehen und sagt diesen umwerfend soliden Satz: „Letztlich ist es natürlich erst einmal ein Gewerbegebiet.“

Das holt diese etwas aufgepumpt daherkommende Wortschöpfung Gigapark+ sehr angenehm auf den Boden der Tatsachen zurück: Auf dem revitalisierten Gelände ist ein Standort für kleine und mittlere Unternehmen entstanden. Knapp 40 Unternehmen und Institutionen siedelten sich bislang an.

Tatsache ist aber auch, dass man bei der Entwicklung der Brache nach der Stilllegung der Hütte viel hätte falsch einfädeln können, besser: Aufs falsche Gleis setzen können. Und dann brems` so eine in Fahrt gekommene Lore mal wieder ab! Wie einfach wäre es zum Beispiel gewesen, die Gewerbeflächen einfach an die Erstbesten zu verkaufen. Interessenten habe es ausreichend gegeben, so Neuhäuser, in den vergangenen drei Jahren hätte die Gemeinde das Areal komplett verkaufen können. Aber wie wenig weitsichtig wäre dieser planlose Ausverkauf gewesen. Sagt Neuhäuser.

Aber: Die Gemeinde Ilsede wollte einen Plan. Denn das ehemalige Hüttengelände sollte nicht blindlings vermietet oder verkauft werden, sondern nach der Epoche der Stahlzeit als neues  Industriezentrum 2.0 wiederbelebt werden.

Nachhaltig. Modern. Innovativ.

Die Allianz für die Region erarbeitete im Auftrag der Gemeinde ein Nutzungskonzept. Viel papierne Expertise lässt sich in drei  Hauptschlagworte klipp und klar knappen: Nachhaltig. Modern. Innovativ. Plus ein +: Plus langfristig. So wurde in Workshops mit allen Protagonisten aus Wirtschaft, Verwaltung und Politik ein Zukunftsbild entwickelt. Und das sieht natürlich einen Branchenmix vor. Im Konzeptpapier klingt das so: „Demnach verfügt der Gigapark+ über ein hohes Potential für die Ansiedlung von innovationsbasierten Unternehmen und Bestandsunternehmen  aus dem verarbeitenden Gewerbe und dem Handel.“

Aber eben keinen Fleischgiganten wie Tönnies aus Rheda-Wiedenbrück. Und auch kein Transportunternehmen, das immense zusätzliche Verkehrsströme bringen würde und somit nicht tragbar wäre. Ein perfektes Trio hingegen: ein Bauunternehmer, ein Landschaftsgärtner und ein Elektrotechniker, spezialisiert auf PV-Anlagen.

Ein Bild aus Zeiten, als hier noch 5000 Menschen in der Stahlerzeugung malochten.    Susanne Jasper
Ein Bild aus Zeiten, als hier noch 5000 Menschen in der Stahlerzeugung malochten.

Neuhäuser weiß, wie sich Strukturwandel anfühlt. Hat er in der eigenen Familie erlebt. 1982 in Essen geboren, ist er mitten im Kruppgürtel groß geworden. Einige aus seiner Familie haben auf Zeche und im Stahlwerk gearbeitet. Vielleicht liegt ihm die bedachte und durchdachte Entwicklung des Ilseder Hüttengeländes auch deshalb so besonders am Herzen. Als wir oben auf dem Hochofenplateau zwischen Gebläsehalle und Kugelwasserturm stehen, über die sieben Hektar große Grünfläche schauen und er erzählt, dass neben dem 18-Bahnen-Disc-Golf-Parcours „hier oben noch ein bisschen was passieren soll“ und dass die steil in den Himmel ragenden, ungetümen Stahlstreben, nun künstlerisch bearbeitet und in Szene gesetzt, von der stolzen Geschichte dieses Industrieorts zeugen, da spürt man, dass er nichts ohne Sinn und Konzept versilbern wollte, nur um möglichst schnell Gewerbesteuerkasse zu machen.

Starterhof in Ilsede lockt mit niedriger Kaltmiete

Mit Blick auf den Starterhof muss ich mir jetzt doch mal diese Frage trauen: Warum sollte ich mich ausgerechnet hier mit meinem Start-up ansiedeln? Nichts gegen Ilsede, aber selbst wenn der Bär auch in Braunschweig nicht so wendig steppt wie in Berlin, was sollte mich nach Ilsede locken?

Damit wären wir wieder beim Gigabit. Sämtlicher High-level-Bürostandard inklusive. Und während man arbeitet, lädt das Fahrzeug an E-Mobilladestationen. Zudem liegt die Kaltmiete bei 5,50 Euro pro Quadratmeter.

Neuhäuser hätte da noch zwei Asse im Ärmel für Start-ups: Die Firma Christmann hat ihren Sitz auf dem Gelände, Netzwerken mit dem IT-Spezialisten und Abschöpfen von synergetischen Effekte also nicht ausgeschlossen. Den Informationstechnikern liegt zudem ein Förderbescheid vom Ministerium für Digitales auf dem Tisch: Demnächst soll ein Tiny Hub entstehen. In diesen Shared Workspaces in kleinen Einraumhäuschen (Tiny) sei vieles denkbar: klassisches coworking oder auch mal der Unterricht von Schulklassen.

Ebenfalls an Bord im Starterhof: die Wito, ein kurzer Draht zu der Wirtschaftsförderungsgesellschaft, die das Hüttengelände vermarktet, kann also in die Für-und-Wider-Erwägungen einbezogen werden. Dass die Polizei mit einer eigenen Station vor Ort ist, kann auch nie von Nachteil sein.

Der Starterhof im Gigapark Ilsede: Hier ist unter anderem die Wirtschaftsförderungsgesellschaft untergebracht.  Susanne Jasper
Der Starterhof im Gigapark Ilsede: Hier ist unter anderem die Wirtschaftsförderungsgesellschaft untergebracht.

Proaktives Marketing soll die Flächen füllen

Der Kugelwasserturm ist die höchste Erhebung hier draußen auf dem Hüttengelände. Fast 30 Meter hoch. Die im Turm gespeicherte Kühlwasser-Reserve reichte für 30 Minuten, um die Hochofenarmaturen vor Schaden zu bewahren. Inzwischen ist er denkmalgeschützt.

In der ehemaligen Umformerstation darunter tagt heute der Industrieverein, nebenan trifft sich der VW-Audi-Club-Peine. In der ehemaligen Gebläsehalle (2000 Quadratmeter) gibt es alle Jahre wieder Empfänge, Feiern, Veranstaltungen und die Jobbörse.

Der Kugelwasserturm mit Leitung im Gigapark Ilsede Susanne Jasper
Der Kugelwasserturm ist mit 30 Metern das höchste Konstrukt auf dem Hüttengelände.

Neuhäuser möchte da noch mehr ankurbeln. Begeistert erzählt er von der „Expo Real“, Europas größter Messe für Immobilien, Gewerbeflächen und Investitionen in München. „Gute Effekte“ habe diese Messe gezeitigt, so stellt er sich proaktives Marketing vor. Für das Kompetenzzentrum Neue Medien (Komed), das sich in der ehemaligen Waschkaue befindet, sind bereits 400 000 Euro Förderung vom Finanzministerium zugesagt. Dort wird es also bald frisch renovierte Tagungsräume geben, in die sich alle Firmen auf dem Areal sowie Bildungsträger und Vereine einmieten können. 

Digitalisierung soll zum Fingerabdruck der Gemeinde werden

Nach vorn gehen, nicht abwarten – so agiert Neuhäuser auch im Rathaus. 120 Jahre ist das Haus alt, früher lenkte hier die Führungsriege der Hütte die Geschicke des Stahlförderers. Gerade erst hat er eine Fördermanagerin installiert. Dass die Gemeinde in der digitalen Transformation vorn dabei ist, versteht sich von selbst. Beim bundesweiten Netzwerk junger Bürgermeister ist er im Vorstand des mehr als 800 Personen starken Gremiums, ab und an hat er da in Berlin schon mal mit den Ministerinnen Nancy Faeser oder Klara Gleywitz zu tun. Dass man als einer von 22 000 Kunden (so nennt er seine Bürger) nach dem Online-Zugangsgesetz bald alles digital regeln kann, soll zum Fingerabdruck der Gemeinde Ilsede werden. Ebenso wie der Gigapark+.